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Mit 14 Jahren auf der Straße: Zwei Geschichten über Obdachlosigkeit in Wien

Zwei Betroffene erzählen ihre Geschichte von Wohnungslosigkeit in ihrer Jugend.
Zwei Betroffene erzählen ihre Geschichte von Wohnungslosigkeit in ihrer Jugend. ©pixabay.com (Symbolbild)
Jugendobdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit bei jungen Erwachsenen sind europaweit ein wachsendes Phänomen. Vienna.at hat mit zwei Betroffenen in Wien gesprochen.

Das neunerhaus Café ist in Metall- und Holzoptik eingerichtet und wirkt modern und hell. Lampen verbreiten warmes Licht. Durch die hohen Fenster kann man auf den Gehsteig blicken. Junge und alte, weibliche und männliche Gäste und Leute mit Kindern oder Hunden sitzen an den Tischen, essen Suppe oder trinken Kaffee. An einer Wand hängt ein Plakat mit einem Hund und dem Spruch darauf: „Jeden kann es einmal auf die Schnauze hauen“. Das ist das Motto einer neuen neunerhaus-Kampagne. Die Kaffeemaschine mahlt lautstark und die vielen Gespräche verschiedener Leute vermischen sich zu einem Brummen im Hintergrund. Es ist fast so, wie in jedem anderen Wiener Caféhaus. Doch das neunerhaus Café ist nicht irgendein Café: Hier können Wohnungslose ihren Tag verbringen und gratis oder um eine kleine Spende Essen und einen Kaffee oder ein anderes Getränk genießen.

Hier habe ich mich mit Adam* getroffen. Der junge Mann mit dem Kurzhaar-Schnitt und einem „Pantera“-T-Shirt sitzt mir auf einem Ledersofa im neunerhaus Café gegenüber und erzählt mir, wie es dazu kam, dass er obdachlos wurde.

„Jeder, von den Arbeitern bis zu den Managern war auf Drogen“

Adams Leben geriet aus den Fugen, als er zu Arbeiten anfing. Die Eltern des gebürtigen Polen sind geschieden. Die Mutter zog mit ihm in seinen Jugendjahren nach Großbritannien zu ihrem neuen Freund um. Der Vater blieb in Polen. Adam zog mit 18 Jahren bei seiner Mutter aus und hatte einen Job bei einem Online-Händler angefangen. Bei den Nachtschichten dort, habe sein Problem mit Drogen begonnen: „Sie waren gnadenlos, wenn es darauf ankam die Ziele zu erreichen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass jeder dort irgendwelche Stimulanzien genommen hat. Jeder, von den Arbeitern bis zu den Managern der Nachtschicht, war auf Drogen.“

„Es gab öfter Konflikte und Streitereien“

Auch Nina hat Erfahrungen mit Obdachlosigkeit in ihrer Jugend gemacht. Mit 14 Jahren lief sie von zuhause weg und war bis zu ihrem 16 Geburtstag wohnungslos. „Meine Mutter war Alleinerzieherin und ich habe mich viel mit ihr gestritten. Da gab es dann öfter Konflikte und Streitereien“, erzählt Nina. Man sieht ihr die Jahre der Obdachlosigkeit, jetzt, viele Jahre danach, nicht an. Nina hat ihr langes, brünettes Haar zu einem Zopf zusammengebunden und trägt ihre liebste Weste zum Interview. Die 35-Jährige, die mittlerweile selbst Mutter ist, ist Peer beim neunerhaus und hilft Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Obdachlosigkeit. Da sie selbst in der Situation war, kann sie jungen Wohnungslosen auf eine ganz andere Art helfen, erklärt mir Nina.

Rund ein Drittel der Obdachlosen in Wien sind junge Erwachsene

Laut Statistik Austria waren im Jahr 2022 in Österreich 19.912 Personen obdachlos, davon 58,2 Prozent in Wien. „Derzeit gelten knapp 20.000 in Österreich als obdach- oder wohnungslos“, hält auch Daniela Unterholzner, Geschäftsführerin des neunerhauses fest. Die Dunkelziffer davon, sei jedoch, laut neunerhaus, hoch. Die AG Junge Wohnungslose geht davon aus, dass in Wien rund ein Drittel der obdach- und wohnungslosen Menschen zwischen 18 und 30 Jahre alt sind. „Die Wohnungslosigkeit wird seit einigen Jahren europaweit weiblicher, jünger und internationaler“, weiß die neunerhaus-Chefin.

„Ich habe auch in der Waggonie geschlafen“

Nina erinnert sich, dass sie zu Beginn noch bei Freunden übernachtet hatte. Diese lebten aber selbst noch bei ihren Eltern. „Und spätestens nach dem dritten Tag ist das den Eltern aufgefallen und dann musste ich dort auch wieder weg“, erklärt die ehemalige Obdachlose. Als Nina als Jugendliche auf der Straße war, gab es noch keine Notschlafstellen für junge Leute. „Ich habe immer irgendwo in einem Park oder in Abbruchhäusern, also leerstehenden Gebäuden, geschlafen.

Ich habe aber auch in der Waggonie geschlafen, dort wo die Züge zur Reparatur- oder Wartungszwecken stehen“, erzählt mir Nina. Seit Nina obdachlos war, hat sich viel geändert. Mittlerweile gibt es zahlreiche Angebote für junge Erwachsene oder Jugendliche in der Obdachlosigkeit. Im A_way in der Nähe des Westbahnhofs können Jugendliche für bis zu fünf Nächte anonym unterkommen. Das aXXept, das JUCA und ab Jänner das Chancenquartier des neunerhauses sind nur einige Angebote für junge Wohnungslose.

„Das war der Moment wo es bergab ging“

Adam ging es ähnlich. Der heute Mitte-Zwanzigjährige hat insgesamt sechs Jahre in England in einer kleinen Stadt mit rund 200.000 Einwohnern gelebt. Dann bekam Adam seinen Job bei einem Online-Händler: „Es war mein erster richtiger Job. Und der Manager hat angefangen die Menschen runterzudrücken. Alle meine Arbeitskollegen haben Drogen genommen. Das war der Moment wo es bergab ging“, erzählt er. Oft war der Druck in der Arbeit zu groß und die Ziele zu hoch, als dass er es hätte nüchtern schaffen können, erklärt Adam. Er hat durch den Drogenkonsum Schulden gemacht und konnte sich seine Miete irgendwann nicht mehr leisten. Er landete auf der Straße.

Da seine Mutter ihn nicht wieder aufnehmen wollte, zog der junge Mann zu seinem Vater nach Polen zurück. Dort entwöhnte er sich von den Drogen und konnte sich etwas erholen. Bis sein Vater ihn vor die Tür setzte. „Ich war nicht mehr süchtig, als ich bei meinem Vater lebte, aber ich habe mich gerade von der Sucht erholt und von Depressionen nach so vielen Jahren des Drogenmissbrauchs. Es hat lange Zeit gedauert, bis ich wieder auf meinen Beinen stehen und mich zusammennehmen konnte. Mein Vater wollte mir diese Zeit nicht geben“, so Adam. Da es so etwas wie Obdachlosen-Quartiere oder Wohnungslosen-Hilfe in Polen nicht gibt, beschloss er zu seiner Freundin nach Wien zu kommen. Da sie bei ihren Eltern lebt, konnte Adam jedoch nicht bei ihr bleiben und kam im September in einem Quartier der Johanniter unter.

Junge Wohnungslose: Mit Sucht und ohne Ausbildung

Neben Sucht ist vor allem die nicht abgeschlossene Ausbildung bei jungen Wohnungslosen ein Thema. Auch Nina hatte keine abgeschlossene Ausbildung, als sie mit 14 Jahren obdachlos wurde. Sie stand jeden Tag zeitig auf, um nicht von der Polizei von ihrem Schlafplatz vertrieben zu werden. „Ich war dann relativ bald auch Heroin abhängig. Ich habe dann den Tag damit verbracht Geld aufzustellen, um mir Drogen zu organisieren“, erzählt die heute 35-Jährige. Mit 16 Jahren finanzierte ihr Vater ihr dann die erste Wohnung. Doch es war schon zu spät. Nina war süchtig und bis auf die Tatsache, dass sie nun für die Nacht einen Schlafplatz hatte, änderte sich nichts an ihrer Situation. Mittlerweile hatte Nina auch begonnen Drogen zu verkaufen, damit sie sich ihre eigene Sucht finanzieren konnte.

„Und dann kam meine erste Inhaftierung mit siebzehneinhalb. Sechs Monate war ich damals in Haft. Ich bin mit 18 Jahren entlassen worden. Ein Jahr war ich dann clean, wurde dann aber wieder rückfällig“, erzählt die ehemalige Wohnungslose. Das zweite Mal wurde Nina mit 24 Jahren verhaftet. Diesmal lautete das Urteil allerdings Therapie. „Die Chance habe ich genutzt und habe ein Jahr stationär Therapie gemacht und konnte mich in der Zeit sehr gut stabilisieren nach meiner Suchterkrankung“, blickt Nina zurück. Sie konnte ihren Hauptschulabschluss nachmachen, die Therapie mit 25 beenden und eine Ausbildung zum Peer beim neunerhaus abschließen. „Ich bin nach wie vor noch im Substitutionsprogramm, das heißt ich bekomme Drogenersatzmedikamente, aber sonst habe ich nichts mehr mit der Suchtszene zu tun“, ist Nina stolz auf ihre Entwicklung.

Lagerarbeit und Deutschkurs

Auch Adam hat es schwer in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. „Aus meinem Drogenproblem konnte ich mich befreien, als ich zurück nach Polen zog, denn ich konnte mir das nicht länger leisten. Außerdem kannte ich dort keinen, der Drogen verkauft. Ich musste aufhören – Cold Turkey“, erzählt der junge Mann von seinem Entzug von Speed. Heute ist er clean und versucht sich so weit wie möglich von dem Drogen-Umfeld zu distanzieren. Anders, als viele andere junge Wohnungslose kann Adam jedoch auf eine gute Ausbildung und Berufserfahrung zurückgreifen: „Ich möchte nicht angeben, aber ich habe einen ziemlich guten Lebenslauf für einen Lagerarbeiter.

Ich habe in allen möglichen Lagerhäusern gearbeitet. Aber, immer wenn ich nach einer Arbeit in Österreich in einem Lagerhaus suche, dann ist die Hauptanforderung natürlich Deutsch. Ich bin gerade dabei die Sprache zu lernen. Ich besuche einen Kurs, aber der findet nur zwei Stunden die Woche statt. Es ist nicht der beste Kurs, um eine Sprache zu lernen.“ Adam hat zudem ein Gymnasium abgeschlossen und ein Jahr IT an einem College in Großbritannien studiert. Jetzt möchte er sich auf seine Sprachkenntnisse konzentrieren: „Ich habe gehört, dass das AMS dich zu Kursen schicken kann und dich dafür bezahlt, dass du sie absolvierst. Ich schaue mir das an, denn wenn ich einen guten Deutschkurs finde, würde das viele Türen für mich öffnen.“

 „Das war nicht immer einfach, aber man darf nicht aufgeben“

Viele wohnungslose Jugendliche sehen pessimistisch in ihre Zukunft. Zuspruch und Hilfe erhalten sie unter anderem durch sogenannte Peers vom neunerhaus. „„Wir arbeiten im neunerhaus Billrothstraße vor allem mit jungen Erwachsenen. Ab Anfang des kommenden Jahres soll dort nur noch mit jungen Erwachsenen gearbeitet werden. Dabei setzen wir auf unseren Peer-Ansatz. Das neunerhaus bildet ehemalige Obdachlose zu Peers aus, die dann Betroffenen mit ihrem Erfahrungswissen helfen können. Wir wollen jungen wohnungslosen Menschen Zukunftsperspektiven aufzeigen“, erklärt Daniela Unterholzner das Programm.  

Auch Nina hat die Ausbildung zum Peer gemacht und berät nun junge Wohnungslose. „Jugendlichen, die nicht mehr an sich glauben, würde ich einen Teil meiner Geschichte erzählen und ihnen sagen, dass es nie zu spät ist. Ich war auch erst 34, als ich die Ausbildung gemacht habe. Man muss nur an sich glauben und zur richtigen Zeit die richtige Unterstützung bekommen. Diese aber dann auch annehmen, wenn man sie bekommt. Bei mir war auch von 14 bis Mitte 20 alles ein Chaos und ich habe auch fast zehn Jahre gebraucht dieses Chaos – welches ich vorher veranstaltet habe – wieder aufzuräumen. Das war nicht immer einfach, aber man darf nicht aufgeben“, erzählt die 35-Jährige.

„Du musst dir selbst helfen wollen“

Auch Adam hat seine Ziele klar vor Augen: „Meine kurzfristigen Ziele sind, dass ich einen Platz habe, den ich mein Eigen nennen kann und aus dem Quartier ausziehen kann. Ich möchte einen Aufenthaltstitel in Österreich bekommen und einen Job finden. Mein größtes Ziel ist es, einfach wie ein normaler Mensch zu leben und so schnell wie möglich aus meiner jetzigen Situation hinauszukommen. Ich will einfach leben und mein Leben genießen.“

Auch er hat Ratschläge für junge Erwachsene: „Schätze was du hast, denn du bist nur ein Gehalt entfernt vom Leben auf der Straße. Menschen denken oft, sie haben alles unter Kontrolle und alles ist ok, aber du verpasst es einmal die Miete zu zahlen und du landest auf der Straße. Noch ein Ratschlag von mir: Egal wie hart es ist. Es gibt immer Menschen, welche ein offenes Herz haben und dir helfen wollen. Versuche diese Menschen zu finden, denn sie existieren. Es gibt immer Menschen die dir helfen wollen, aber du musst diese Hilfe annehmen. Du musst dir selbst helfen wollen. Dann kannst du alle schaffen.“

*Name von der Redaktion geändert.

(cor)

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