Aus Sicht des früheren DDR-Intellektuellen herrscht heute eine “idealisierte Sicht auf den Herbst 1989” und seine Folgen vor. Segert arbeitete beim Mauerfall als kritische Stimme innerhalb der Regierungspartei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) auf eine Demokratisierung der DDR hin. Kurz vor der Wende wurde er zum Professor für marxistisch-leninistische Philosophie berufen, bereits davor war er mit anderen in einem Reformzirkel aktiv. Doch das Ende des ostdeutschen Staates stand nicht auf der Reformagenda seiner Arbeitsgruppe “Moderner Sozialismus”, sagt er heute.
Wiener Forscher kritisiert Fokus auf Mauerfall
Als Kontrapunkt zur Nacht des Mauerfalls schlägt der Politikwissenschafter ein anderes Datum vor: Genau ein Monat vorher, am 9. Oktober, gingen bei der bis dahin größten Kundgebung mehr als 70.000 Menschen gegen die SED-Herrschaft auf die Straße. Der friedliche Ausgang habe die fehlende Bereitschaft des Regimes zu einer “chinesischen Lösung” – einem Massaker wie zuvor am Tiananmen-Platz in Peking – gezeigt und die Hoffnung auf eine demokratische Wende befeuert, sagte Segert. Es handle sich um einen entscheidenden Punkt in den Ereignissen. “Das kommt heute nicht mehr ganz zum Ausdruck.”
Auch in den Schulen werde der westdeutsche Blickwinkel gelehrt, Ostdeutschland käme nur als Diktatur vor und nicht als Teil der eigenen Identität, beklagt der Politikwissenschafter, der sich auch mit politische Bildung beschäftigt.
Kritik von Wiener
Mit dem Mauerfall wurde die Forderung nach Demokratie in der DDR vom Ruf nach Einheit mit dem anderen Deutschland überlagert. Heute werde die Einigung der zwei deutschen Staaten als alternativlos hingestellt, sagte Segert. Doch der rasche Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik Deutschland sorge bis heute für Probleme.
Die Ankündigung der Währungsreform – der Einführung der westdeutschen Mark – sei der Ausgangspunkt für eine “Schocktherapie” gewesen, unter der die Wirtschaft in Ostdeutschland bis heute leide, sagte Segert. Auch fänden die Auswirkungen der Einheit und die Gründe für das fehlende politische Selbstbewusstsein des Ostens in der Forschung zu wenig Beachtung.
Der Politikwissenschafter weist auf die Entwicklung in den Nachbarstaaten hin, die viel schneller auf eigenen Beinen gestanden seien. In Tschechien bauen man heute etwa bei Skoda Autos und arbeite auch selbst an der Entwicklung mit – in Ostdeutschland gebe es hingegen viel Abwanderung und wenig mehr als Zulieferindustrie. Ein länger eingeständiges Ostdeutschland wäre heute wohl wirtschaftlich stärker und politisch selbstbewusster, sagt Segert. Aber darüber ließe sich heute nur spekulieren.
(Das Gespräch führte Alexander Fanta/APA)