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Liebesbriefe auf Bestellung

Die Lohnschreiber von Mexiko. Liebesbriefe seien kompliziert, sagt Enrique, und deshalb etwas teurer. Grundsätzlich ist ihm aber jeder Auftrag recht.

Seit 18 Jahren wartet Enrique Acevedo Salas jeden Morgen von acht Uhr an hinter seinem kleinen Holzschreibtisch im historischen Zentrum der mexikanischen Hauptstadt auf Kunden. Enrique ist „Escribano“, Lohnschreiber. Er fertigt maschingeschriebene Briefe aller Art.

„Meine Arbeit ist die einer Sekretärin und die eines Psychologen“, sagt er. Zu ihm kommen Professoren, die schnell etwas getippt haben wollen, ebenso wie einfache Leute, denen er Behördenbriefe schreibt. Ein einfacher Brief kostet 20 Peso (rund zwei Euro), für lange und komplizierte Schreiben verlangt Enrique schon mal das Doppelte. Und Liebesbriefe kosten 30 Peso.

Der 41-Jährige ist Schreiber in dritter Generation. Er und sein 71 Jahre alter Vater gehören zu einer der ältesten Berufsgruppen in der mexikanischen Hauptstadt. Die Schreibtische der Escribanos stehen seit mehr als 150 Jahren an der Plaza Santo Domingo, ein paar Blocks vom zentralen Zocalo entfernt. Hier schlug einst das Herz des kolonialen Mexiko. Anfang des 18. Jahrhunderts errichteten Dominikanermönche an dem geräumigen Platz ihr zweites, prachtvolles Kloster, Zoll und Inquisition ließen sich nebenan nieder.

Nach der Unabhängigkeit Mexikos 1821 verlor der Platz an Glanz, Schnapsverkäufer und andere Kleinhändler eroberten ihn für ihre Geschäfte. Unter dem Portal im Westen boten die ersten Lohnschreiber ihre Hilfe an. Etwa 20 Escribanos klappern heute noch auf ihren klobigen Maschinen, unter ihnen auch einige junge Frauen.

Gegenüber bieten „Dienstleister für Schreibwaren aller Art“ handgeprägte Bleisatzkarten an: „Für Hochzeit, Taufe, Geburtstag!“. Wer fragt, bekommt von ihnen auch falsche Universitätszeugnisse. Die wuchtigen Kolonialbauten sind inzwischen ergraut, auf dem Platz schlafen Obdachlose, der Arkadengang scheint durchzuhängen.

Seit einigen Jahren liefen die Geschäfte schlecht, sagt Enrique. Nur fünf bis sechs Mal am Tag spannt er zwei blanke Bögen und ein Durchschlagblatt ein. Es gebe einfach zu viele Computer: „Früher kamen doppelt so viele Kunden.“ Enriques nächster Kunde handelt den Preis auch noch runter. Er diktiert ein paar Sätze an den mexikanischen Präsidenten Vicente Fox. Fox habe allen Arbeitslosen, wie er einer sei, Hilfe versprochen und darauf warte er seit einem Jahr. Nach kaum drei Minuten trägt der Arbeitslose ein fehlerloses Beschwerdeschreiben davon.

Dann streckt ein Mann mit tätowierten Armen Enrique ein paar handbeschriebene Blätter entgegen, fragt, wie lange es dauern werde, und verschwindet. „Querido Amor – Meine Geliebte“, beginnt der Text. Der Briefentwurf kennt weder Punkt noch Komma, viele Wörter sind falsch geschrieben. Enrique liest ihn laut, um das Geschriebene zu entschlüsseln, seufzt: „El pobrecito – der Ärmste!“ und reiht Liebesschwur an Liebesschwur: „Wie gern wäre ich immer an Deiner Seite geblieben und hätte Dich glücklich gemacht, wie es in diesem Leben nur möglich ist.“ Als der Kunde zurückkehrt, verbirgt er seine Augen hinter einer dunklen Brille.

Gegen vier Uhr am Nachmittag macht sich Enrique auf den Weg nach Hause, eine Stunde in der überfüllten U-Bahn bis nach Iztapalapa, einem der ärmsten und gefährlichsten Vororte der Stadt. Die einst hochangesehenen Schreiber der Plaza de Santo Domingo verdienen heute kaum genug zum Leben. Doch Enrique sagt, er liebe seine Arbeit: „Ich treffe alle Arten von Menschen und kenne alle ihre Geheimnisse.“

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