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Libanon vor neuer Zerreißprobe - Gewalt und Chaos auf den Straßen

Viele Libanesen machen Regierung und Behörden für das Unglück am letzten Dienstag verantwortlich.
Viele Libanesen machen Regierung und Behörden für das Unglück am letzten Dienstag verantwortlich. ©JOSEPH EID / AFP
Am Wochenende machten Tausende Libanesen ihrem Zorn über die politische Elite bei teils gewaltsamen Protesten Luft. 250 Menschen wurden dabei verletzt, ein Polizist starb.
Demonstrationen gegen Regierung im Libanon
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Bürger stürmen Ministerium in Beirut
Gewaltige Explosion am Hafen von Beirut
Explosionen am Hafen von Beirut

Beirut/Paris - Während internationale Geber bei einer Videokonferenz Gelder für rasche Nothilfen sammelten, gab es Anzeichen für einen weiteren schrittweisen Zerfall der Regierung. Ministerpräsident Hassan Diab will dem Kabinett an diesem Montag eine Neuwahl des Parlaments vorschlagen.

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Am Wochenende machten Tausende ihrem Zorn über die politische Elite bei teils gewaltsamen Protesten Luft. 250 Menschen wurden dabei verletzt, ein Polizist starb. Bis zu 300 000 Menschen wurden durch die Schäden an ihren Häusern obdachlos. Und die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, schwindet.

Regierungskritische Demonstranten - Foto: AP

Neue Zusammenstöße in Beirut - Feuer am Parlamentsplatz

In Beirut ist es am Sonntag zu neuen Zusammenstößen zwischen der Polizei und regierungskritischen Demonstranten gekommen. Diese warfen mit Steinen auf Beamte, die eine Straße in Richtung des Parlaments abriegelten, wie auf Fernsehaufnahmen zu sehen war. Die Polizei setzte Tränengas ein. Demonstranten brachen zudem in die Ministerien für Verkehr und Wohnungsbau ein.

Am Zugang zum Parlamentsplatz brach ein Feuer aus. Ein Reuters-Reporter berichtete von Tausenden Demonstranten, die dort und auf dem nahe gelegenen Märtyrer-Platz zusammenströmten. "Wir wollen die Regierung zerstören und töten", sagte ein 19-jähriger Mann. "Sie hat uns weder Jobs noch Rechte gegeben."

Bereits am Samstag war es zu Zusammenstößen im Zentrum der libanesischen Hauptstadt gekommen. Dabei waren ein Mensch getötet und mehr als 170 verletzt worden.

Einige Demonstranten versuchten, Absperrungen zum Parlament zu durchbrechen und warfen Steine. Andere stürmten das Gebäude der Bankenvereinigung oder drangen lokalen Medienberichten zufolge in Ministerien ein.

Militär auf den Straßen - Foto: ANWAR AMRO / AFP

Am Dienstag waren durch eine schwere Explosion am Hafen von Beirut 158 Personen ums Leben gekommen und mehr als 6.000 verwundet worden. Viele Libanesen machen Regierung und Behörden für das Unglück verantwortlich. Zudem prangern die Demonstranten Korruption und Misswirtschaft an. Der Libanon leidet unter einer Wirtschaftskrise und kämpft zudem gegen die Coronavirus-Pandemie.

Die Wut der Libanesen ist groß, weil dort offenbar über Jahre große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat ohne Sicherheitsvorkehrungen lagerten. Dies soll die gewaltige Explosion verursacht haben.

"Ich entschuldige mich bei allen Libanesen"

Im Libanon führten die Rücktritte von Informationsministerin Manal Abdel Samad und eines zweiten Ministers am Sonntag zu Spekulationen über mögliche weitere Rücktritte. "Ich entschuldige mich bei allen Libanesen, die ihre Ziele nicht erreichen konnten", sagte Samad bei einer im Fernsehen übertragenen Erklärung.

Auch Umweltminister Damianos Kattar legte sein Amt nieder, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Regierungskreisen erfuhr. Einen Tag vor der Explosion hatte bereits Außenminister Nassif Hitti sein Amt niedergelegt. Als Begründung nannte er die seiner Meinung nach schwache Leistung der Regierung in dem Versuch, das Land aus seiner wirtschaftlichen und politischen Krise zu führen. Nachfolger Scharbil Wihbi wurde bereits vereidigt.

Regierung des Libanon wankt

Regierungschef Diab reagierte mit seinem Vorschlag für eine Neuwahl auf den massiven Druck auf die Regierung. Einen möglichen Termin dafür nannte er nicht. Die nächste Wahl stünde eigentlich 2022 an. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass Diabs Ankündigung die Wut der Menschen besänftigen kann. Viele Libanesen klagen, Wahlen hätten bisher an den realen Machtverhältnissen im Land wenig verändert.

253 Millionen Euro Soforthilfe für den Libanon

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron forderte die internationale Gemeinschaft bei einem mit den Vereinten Nationen organisierten virtuellen Treffen zu massiver Unterstützung auf. Dabei kamen knapp 253 Millionen Euro Soforthilfe zusammen, 30 Millionen Euro davon aus Frankreich, berichteten Élyséekreise nach der Videoschalte am Sonntag. Deutschland sagte dabei 20 Millionen Euro zu, wie Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Abend im ZDF erklärte.

Beirut sei im Herzen getroffen worden, sagte Macron zum Auftakt der Videoschalte, an der nach Pariser Angaben Vertreter von mindestens 36 Staaten und Organisationen teilnahmen. Neben UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock beteiligten sich demnach auch US-Präsident Donald Trump und mehrere europäische Regierungschefs. Co-Gastgeber Frankreich ist dem Libanon als frühere Mandatsmacht bis heute eng verbunden.

Die EU kündigte an, über ihren Gemeinschaftshaushalt zusätzliche 30 Millionen Euro für Nothilfen bereitzustellen. Das Geld ergänzt den Betrag von 33 Millionen Euro, der bereits direkt nach der Katastrophe zugesagt worden war. Davon unabhängig hatte Maas vorab ein deutsches Soforthilfepaket im Umfang von zehn Millionen Euro angekündigt. Der Internationale Währungsfonds will auch mit einem Rettungspaket helfen, verlangt dafür aber eine Einigung auf umfassende Reformen.

(APA)

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