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Libanon bekommt Einheitsregierung mit Hisbollah als Vetomacht

Im Libanon hat der neue Staatspräsident Michel Sleimane am Montag den Rücktritt des Kabinetts von Premier Fouad Siniora angenommen. Das in der vergangenen Woche in Doha unterzeichnete Abkommen zur Beilegung der 18-monatigen Staatskrise sieht nun die Bildung einer Allparteienregierung vor, in der die bisherige Opposition unter Führung der schiitischen Hisbollah über eine Sperrminorität verfügen wird. Während Syrien und der Iran die Wahl des 59-jährigen Generals und bisherigen Armeechefs Sleimane euphorisch begrüßten, machte sich in Israel Enttäuschung über den Machtzuwachs der als Terrororganisation angesehenen pro-iranischen Schiitenpartei breit.

US-Präsident George W. Bush erneuerte die Forderung nach Entwaffnung der Hisbollah-Miliz, deren Rolle als “nationaler Widerstand” im Kampf gegen Israel aber von Sleimane in dessen Antrittsrede nachdrücklich gewürdigt wurde. Sleimane, der bei der Wahl am Sonntag 118 von 127 Abgeordnetenstimmen erhielt, tritt die Nachfolge des im November aus dem Amt geschiedenen Staatsoberhauptes Emile Lahoud an. Der Armeekommandant war schon im Dezember von der Opposition als Kompromisskandidat vorgeschlagen und von der prowestlichen Mehrheitskoalition akzeptiert worden. Die Wahl musste jedoch 19 Mal verschoben werden, weil sich die gegnerischen Lager nicht auf die damit junktimierte Bildung einer “Regierung der Nationalen Einheit” verständigen konnten. Die Opposition reklamierte ein Vetorecht in einer solchen Regierung und konnte sich letztlich mit ihrem Anspruch durchsetzen. Das neue Kabinett, an dessen Spitze Mehrheitsführer Saad Hariri stehen dürfte, wird aus 16 Mehrheitsvertretern, elf Vertretern des Oppositionsbündnisses und drei vom Präsidenten ausgesuchten Ministern bestehen. Zusammen mit ihren Verbündeten, der schiitischen Amal-Bewegung von Parlamentspräsident Nabih Berri und der christlichen Freien Patriotischen Bewegung von Ex-General Michel Aoun kehrt die Hisbollah (“Partei Gottes”) auf die Regierungsbank zurück, auf der sie bereits von Juli 2005 bis November 2006 gesessen war. Sie hatte die 34-tägige israelische Libanon-Offensive im Sommer 2006 mit der Gefangennahme von zwei israelischen Soldaten provoziert und 4000 Raketen auf Nordisrael abgefeuert. Die schiitische Miliz ging aus dem Konflikt mit mehr als 1200 libanesischen und 160 israelischen Toten politisch gestärkt hervor. Nach Einschätzung des israelischen Militärgeheimdienstes sind die Kapazitäten der Hisbollah jetzt stärker als vor der israelischen Großoffensive vor zwei Jahren.

Das syrische Staatsfernsehen feierte Sleimanes Wahl als “historischen Sieg”, durch den “der arabische Libanon wieder den ihm zustehenden Platz einnimmt”. Besonders hervorgehoben wurden die Aussagen des neuen Präsidenten über die “freundschaftlichen und brüderlichen” Beziehungen zum Nachbarland Syrien und die Rolle des “Widerstandes” der Hisbollah im Kampf gegen Israel, das noch immer das Gebiet der sogenannten Shebaa-Farmen besetzt halte. Syriens Außenminister Walid Muallem, der sein Land bei der Vereidigung Sleimanes in Beirut vertrat, unterstrich nach einem Treffen mit seinem spanischen Ressortkollegen Miguel Angel Moratinos in Beirut die Bedeutung der “positiven Entwicklung im Libanon für den Frieden” in der nahöstlichen Region. Moratinos würdigte seinerseits “Syriens Hilfe beim Zustandekommen der libanesischen Einigung”.

Der iranische Außenminister Manouchehr Mottaki, der ebenfalls nach Beirut gereist war, sprach von einem “neuen Kapitel in der Geschichte des Libanon”. Staatspräsident Mahmoud Ahmadinejad hat Sleimane zu dessen Wahl telefonisch gratuliert. Er sprach auch mit Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und beglückwünschte diesen zur Wahl des neuen Präsidenten. Die israelische Presse reagierte enttäuscht auf die libanesische Präsidentenwahl, die durchgehend als “Sieg” der Hisbollah interpretiert wurde. “Haaretz” kritisierte die “Kapitulation” der westlichen Mächte vor der vom Iran gesteuerten “Partei Gottes”. Die Zeitungen “Yedioth Ahronoth” und “Jerusalem Post” beklagten das Versagen der USA und ihrer Verbündeten wie Saudi-Arabien, die sich als unfähig erwiesen hätten, den iranischen Vorstoß abzuwehren.

US-Präsident Bush zeigte sich in seinem Gratulationsschreiben an Sleimane zuversichtlich, dass der neue Präsident an den internationalen Verpflichtungen zur Entwaffnung der Hisbollah festhalten werde. Das Thema der Hisbollah-Waffen war auf der Konferenz in Katar gegen den Willen der Mehrheitskoalition von der Tagesordnung genommen worden. Dass Sleimane in seiner Antrittsrede auf die umstrittenen Shebaa-Höfe hingewiesen hat, macht nach Einschätzung politischer Beobachter deutlich, dass er den Waffenanspruch der Schiiten-Miliz anerkennt, solange nicht “das gesamte Staatsterritorium befreit” sei.

Der französische Außenminister Bernard Kouchner, der bei der Wahl in Beirut anwesend war, nannte die Positionierung Sleimanes zum internationalen Hariri-Tribunal “besonders mutig”. In Kreisen der Mehrheitskoalition war ein Rückschlag für das UNO-Tribunal befürchtet worden, das die Verantwortlichen für den Mord am früheren libanesischen Regierungschef Rafik Hariri zur Rechenschaft ziehen soll. Hariri, der Vater des heutigen Mehrheitsführers, war am 14. Februar 2005 bei einem Bombenattentat in Beirut ums Leben gekommen. Mit ihm starben noch 22 Menschen. Von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebene Ermittlungen haben den Verdacht auf Hintermänner in syrischen Geheimdiensten gelenkt. Bisher hatte die Opposition im Parlament eine Blockadehaltung gegenüber dem Sondergericht eingenommen, das in den Niederlanden installiert werden soll.

1958: Erster Bürgerkrieg nach Spannungen zwischen Muslimen, die sich an den panarabischen Visionen des ägyptischen Staatschefs Gamal Abdel Nasser orientieren, und pro-westlichen Christen. Militärintervention der USA auf Ersuchen von Präsident Camille Chamoun. Kompromisslösung: Armeechef General Fouad Chehab wird neuer Präsident und bildet eine Allparteienregierung.

1969: Chehabs Nachfolger Charles Helou schließt mit Palästinenserführer Yasser Arafat ein Abkommen, das der PLO die uneingeschränkte Kontrolle über die Flüchtlingslager garantiert.

1975: Ausbruch des Bürgerkriegs (bis 1990). Die muslimischen und linken Gruppen verbünden sich mit der PLO.

1976: Die syrische Armee marschiert auf Ersuchen des libanesischen Präsidenten Suleiman Frangie ein und verhindert die drohende Niederlage der christlichen Milizen. Die Arabische Liga beschließt mit Zustimmung Beiruts, den syrischen Truppen ein Mandat als panarabische Friedenstruppe zu erteilen.

1978: Israel besetzt den Südlibanon bis zum Litani-Fluss.

1982: Israels Armee beginnt einen Feldzug (Operation “Frieden für Galiläa”) bis Beirut. Ziel ist es, die palästinensischen Organisationen aus dem Libanon zu vertreiben. Arafat und Tausende seiner Kämpfer müssen das Land verlassen. Massaker christlicher Milizen in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila. Der unter israelischem Schutz von einem Rumpfparlament zum libanesischen Präsidenten gewählte Falange-Führer Bechir Gemayel kann sein Amt nicht antreten; er kommt bei einem Bombenanschlag ums Leben.

1983: Bechirs älterer Bruder und Nachfolger als Präsident, Amin Gemayel, unterzeichnet einen von Israel diktierten Separatfrieden, der vom Parlament nicht ratifiziert wird. Iranische Revolutionswächter (Pasdaran) bauen in der östlichen Bekaa-Ebene die Schiiten-Miliz Hisbollah auf.

1985: Monatelange Kämpfe zwischen Palästinensern und der von Syrien unterstützten schiitischen Amal-Miliz. Israel zieht seine Truppen zurück, behält aber den Süden als “Sicherheitszone”.

1989/90 Als Chef einer von Damaskus nicht anerkannten Militärregierung ruft der christliche Armeechef General Michel Aoun einen “Nationalen Befreiungskrieg” gegen die Syrer aus. Den vom Parlament gewählten pro-syrischen Staatspräsidenten Elias Hraoui erkennt Aoun nicht an. Niederlage der Aoun-Truppen nach einer Offensive der syrischen Armee und pro-syrischer Heereseinheiten unter General Emile Lahoud. Die USA lassen Aoun fallen, als Syrien sich der antiirakischen Koalition anschließt. Aoun geht nach Frankreich ins Exil.

Schwere innerschiitische Kämpfe: Die Hisbollah drängt die Amal-Miliz zurück.

In Taif (Saudi-Arabien) einigen sich die Bürgerkriegs- parteien auf eine Nationale Versöhnungs-Charta, offizielle Beendigung des Bürgerkrieges.

1991: Syrisch-libanesischer Beistandspakt legt den Einfluss Syriens im Nachbarland fest.

1992: Erste Parlamentswahlen seit dem Bürgerkrieg. Der von Syrien und Saudi-Arabien unterstützte Großunternehmer Rafik Hariri wird Ministerpräsident.

1998: Der pro-syrische Armeechef Emile Lahoud wird zum Staatspräsidenten gewählt.

2000: Israel zieht seine Truppen aus dem Südlibanon ab. Die Hisbollah rückt in das geräumte Gebiet vor.

2005: Die Ermordung Hariris führt zu anti-syrischen Massendemonstrationen (“Zedernrevolution”). Syrischer Truppenrückzug. Aoun kehrt triumphal nach Beirut zurück. UNO-Sicherheitsrat setzt Untersuchungskommission zum Hariri-Mord ein. Parlamentswahlen, erstmals Regierungsbeteiligung der Hisbollah.

2006: Hisbollah provoziert im Juli/August 34-Tage-Krieg mit Israel. Schiiten verlassen im November Regierung.

2007: Verfassungskrise. Im November Amtsende von Präsident Lahoud. An der politischen Pattsituation scheitert die Wahl eines Nachfolgers.

2008: Kämpfe in Beirut. Hisbollah drängt Sunniten zurück. Versöhnungsverhandlungen in Katar mit Einigung auf Allparteienregierung und Sperrminorität für Hisbollah und Verbündete. Wahl von General Michel Sleimane zum Staatsoberhaupt.

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