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Letzter Ausweg Istanbul: Viele Russen fliehen vor dem Kriegsdienst

Tausende Russen fliehen vor dem Kriegsdienst, Reservisten werden eingezogen.
Tausende Russen fliehen vor dem Kriegsdienst, Reservisten werden eingezogen. ©AP, AFP, Reuters
Kurz nachdem Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung bekannt gegeben hatte, waren die Flugtickets in die Türkei ausverkauft.
Russen fliehen vor Kriegsdienst
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Russische Reservisten eingezogen
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Proteste gegen Putins Teilmobilmachung

Seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine habe er darüber nachgedacht, Russland zu verlassen, sagt Andrej. Nach der Bekanntgabe des Kremls vergangenen Mittwoch, 300.000 weitere Soldaten für den Krieg einzuziehen, stand die Entscheidung des 23-jährigen Russen fest. Am Wochenende flog er mit seiner Frau Daria in die Türkei.

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Unter den ankommenden Russen am Flughafen von Istanbul ist die Erleichterung groß. Ihrem Gepäck ist anzusehen, dass es in aller Eile gepackt wurde. Keiner von ihnen möchte seinen vollen Namen nennen - aus Angst vor Repressalien gegen Angehörige in der Heimat.

"Wir haben mit unseren Freunden gesprochen, und viele denken darüber nach, zu gehen", sagt die 22 Jahre alte Daria. "Nicht jeder wollte im Februar ausreisen. Die Entscheidung vom 21. September hat viele von ihnen gezwungen, noch einmal darüber nachzudenken."

Flugtickets in die Türkei begehrt

Die Türkei, ein beliebtes Urlaubsziel der Russen, ist eines der wenigen Länder, in die es noch Flüge aus Russland gibt. Und sie verlangt kein Visum, was spontane Reisen erleichtert. Kurz nachdem Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung bekannt gegeben hatte, waren die Flugtickets ausverkauft.

Bereits über 7.000 Euro pro Ticket

Die Fluggesellschaft Turkish Airlines begann, auf ihren Verbindungen nach Russland größere Maschinen einzusetzen. Die Ticketpreise vervielfachten sich. Andrej macht sich deshalb Sorgen um einen seiner Freunde: "Er konnte kein Ticket kaufen, weil es bereits 400.000 Rubel (7.130 Euro) kostete. Das ist zehnmal teurer als vorher."

Auch Sascha, ein 48-jähriger russischer Unternehmer, erzählt am Flughafen von Bekannten, die fliehen möchten, aber nicht können. Die derzeitige Stimmung im Land kann er nur schwer einschätzen. "In Russland gibt es derzeit keinen Konsens. Einige Leute unterstützen Putin, andere nicht", sagt er. Manche seien auch bereit, in der Ukraine zu kämpfen.

Angst vor Gesichtsüberwachung

Viele hätten Angst zu sagen, was sie denken, glaubt Sascha. "Natürlich spüren wir den Druck. In Russland gibt es ein System zur Gesichtsüberwachung. Und wenn jemand dein Gesicht sieht, ist es sehr einfach herauszufinden, wer du bist", sagt er. Auch für ein Interview wie dieses mit der Nachrichtenagentur AFP könnten Probleme drohen.

10.000 Russen fliehen täglich nach Georgien

Etwas einfacher als die Ausreise in die Türkei ist der Weg ins Nachbarland Georgien. Inzwischen kämen täglich 10.000 Russen an, sagte der georgische Innenminister Wachtang Gomelauri am Dienstag in Tiflis. Mehr als 5.500 Autos stünden an der Grenze im Stau.

17.000 Russen reisten nach Finnland

Auch der nördliche Nachbar Finnland wird für viele Russen zum Zufluchtsort. Knapp 17.000 Russen reisten nach Angaben des finnischen Grenzschutzes allein am Wochenende ein - so viele wie nie zuvor in diesem Jahr.

Auch der IT-Experte Alex hat sich in Finnland in Sicherheit gebracht. Der 40-Jährige diente acht Jahre lang in der Armee. "Ich habe einen Offiziersrang. Ich bin der erste, der von der Mobilmachung bedroht ist", erzählt er in seinem bescheidenen finnischen Hotelzimmer. "Ich will meine Brüder und Schwestern in der Ukraine nicht töten."

Man könne für Russland "nichts mehr tun"

Am vergangenen Donnerstag habe er in Sankt Petersburg noch gegen den Krieg demonstriert. Als er sah, wie wenige Menschen protestierten, sei ihm klar geworden, dass man für Russland "nichts mehr tun" könne. Er packte einen Koffer, ließ Frau und Tochter zurück, setzte sich ins Auto und fuhr über die Grenze.

Alex hofft, dass Europa die Kriegsdienstverweigerer aufnimmt. Mache der Westen die Grenzen dicht, stoße er ausgerechnet jene Russen vor den Kopf, "die noch an ihn glauben", sagt er. Alex setzt nun alles daran, auch seine Familie aus Russland zu holen - um dann nie wieder dorthin zurückzukehren.

(APA)

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