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Kriminalität versetzt Argentinier in Angst

Ein Bub harrt reglos sieben Stunden neben seinem erschossenen Vater im Auto aus. "Meinem Vater haben sie das Autoradio gestohlen", sagt der verstörte Dreijährige.

Der Tod bleibt unaussprechlich. Wie hunderte andere Morde wird auch dieses Verbrechen in einem Vorort von Buenos Aires vermutlich nie aufgeklärt werden. Taten wie diese versetzen die ohnehin von der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes geplagten Argentinier in Angst und Schrecken. Die einst so sichere Hauptstadt wird seit Monaten von einer Welle der Kriminalität erschüttert.

Jeden Tag sieben Morde, lautet die bisherige Bilanz für dieses Jahr im Großraum Buenos Aires. Das sind 35 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Medien diskutieren bereits den Einsatz des Militärs im Kampf gegen das Verbrechen und der frühere Präsident Carlos Menem kündigte die Verhängung des Ausnahmezustandes an, falls er im kommenden Jahr wieder an die Staatsspitze gewählt werden sollte.

Allerdings fürchten die meisten Menschen die als schießwütig, korrupt und kriminell geltende Polizei fast so sehr wie die Verbrecher. Kein Tag vergeht, an denen nicht absurde Bilder von Pistolen schwingenden Geiselnehmern, Opfern von Raubmorden oder von Schießereien auf offener Straße zwischen Polizei und Kriminellen über die Bildschirme flimmern. Und oft fällt der Verdacht auf „gemixte Banden“ aus Verbrechern und Polizisten.

Seit einiger Zeit sind so genannte Express-Entführungen in Mode gekommen. Dabei kann jeder überall zum Opfer der spontan handelnden Täter werden. Zwar geht es oft nur um einige tausend Dollar Lösegeld, aber viele Gekidnappte werden umgebracht, sobald sich die Entführer nur bedrängt fühlen oder sich die Sache etwas in die Länge zieht. Alle 36 Stunden wird ein Fall bekannt – das war eine Zunahme von 505 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Immer wieder gibt es Hinweise, dass einzelne Polizisten in solche Taten verwickelt sind. In den vergangenen drei Jahren gab es 3.905 Anzeigen allein gegen Beamte der Provinz Buenos Aires. Betroffen waren damit 8,7 Prozent der 45.000 Gesetzeshüter. Verurteilt wurden jedoch nur 39 Polizisten, berichtete die Zeitung „La Nacion“. „Die Angst vor der Polizei ist genauso groß wie vor den Verbrechern“, sagt ein junger Angestellter.

Viele Bürger lassen ihrem Hass auf die Uniformierten inzwischen freien Lauf. Ein krasses Beispiel war die Entführung und Ermordung des 17-jährigen Diego Peralta in Buenos Aires. Nach 39 Tagen Suche wurde der Schüler in einem Abwassertümpel gefunden. Irgendjemand hatte ihm die Kehle durchschnitten. Familienangehörige sagten Lokalreportern, die Polizei habe bei dem Vater, einem kleinen Geschäftsmann, Schutzgelder zu erpressen versucht. Weil er sich geweigert habe, sei der Bub entführt und umgebracht worden.

Die Polizei hat das dementiert, aber kurz nach der Entführung wurde einer der leitenden Untersuchungsbeamten selbst festgenommen. Er habe zusammen mit Kollegen einen anderen Geschäftsmann in dessen Haus erpresst und beraubt, warf ihm die Staatsanwaltschaft vor. Als die Leiche Diegos gefunden wurde, entlud sich der Zorn. Eine Menschenmenge griff die Polizeistation an und brannte sie nieder. Es grenzt an ein Wunder, dass niemand ums Leben kam. Sogar ein Sprecher der Regierung nannte die Entführung und den Mord „merkwürdig“.

Eine der Hauptursachen für die zunehmende Gewaltkriminalität sieht der Soziologe Artemio Lopez in der immer größeren Kluft zwischen Arm und Reich. Bei einer Langzeitstudie von 1985 bis 2000 sei die Kriminalität nur einmal kurz rückläufig gewesen. Das sei 1992 gewesen, als sich die Wohlstandsschere wegen des Privatisierungsbooms leicht schloss und die Armut rückläufig war.

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