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Kirchner krempelt Argentinien um

Jeden Tag ein politisches Erdbeben, so scheint der neue argentinische Präsident Kirchner zu regieren. Aufhebung der Amnestie - kein überzeugendes Wirtschaftsprogramm.

Der Mann aus dem tiefen patagonischen Süden krempelt das chronisch krisengeplagte Land um und geht dabei kaum einem Konflikt aus dem Weg. Seine Landsleute sehen angenehm überrascht zu, wie der Hans Dampf in allen Gassen zwar bisweilen etwas hektisch und kopflos, aber immer ehrlich und glaubhaft die alten Übel des Landes an den Hörnern packt.

Am meisten Aufmerksamkeit erregte die von ihm betriebene Aufhebung der Amnestie für Schergen der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. Schluss mit der Straflosigkeit, hat er sich auf die Fahne geschrieben und damit einen Teil der Glaubhaftigkeit seines Landes wiederhergestellt.

Nach 100 Tagen im Amt reitet der Mann mit den scharfen Gesichtszügen auf einer ganz ungewöhnlichen Welle der Popularität. Mehr als 90 Prozent aller Argentinier, die während der Staatskrise vor eineinhalb Jahren Politiker schon bisweilen durch die Straßen jagten, billigen seine Amtsführung, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Equis. Diese Popularität ist seine wichtigste Machtbasis, denn innerhalb des komplizierten Machtgefüges der Peronisten hat der frühere Gouverneur der südlichen Provinz Santa Cruz keine Hausmacht.

Wie der „Sturm aus den Steppen Patagoniens“ wollte Kirchner durch die politische Landschaft der Hauptstadt Buenos Aires fegen, und bisher hat er Wort gehalten. Argentinien solle ein ernst zu nehmendes Land werden mit einer unabhängigen Justiz, unbestechlichen Beamten und verantwortungsvollen Politikern. Immer wieder stürmt er bei öffentlichen Auftritten seinen Leibwächtern davon, sucht die Nähe der Menschen und stieß sich dabei bereits zwei Mal den Kopf an Kameras der Journalisten blutig.

Dabei hat er bisher allerdings mehr einen Wechsel im Polit-Stil als konkrete Ergebnisse vorzuweisen. „Effekt K“ nennen die Medien dieses sowohl freundliche wie im Streitfall auch autoritäre, oft undiplomatische aber Vertrauen erweckende Auftreten. Seinem Vize Daniel Scioli schoss er einmal scharf vor den Bug, als dieser laut über eine Anhebung von Wasser- und Stromtarifen nachdachte. An der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Millionen in Armut versunkener Argentinier hat sich unter Kirchner bisher aber nicht viel geändert. Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit von etwa 17 Prozent erweist sich als zäher Brocken. Noch tut das seiner Popularität jedoch keinen Abbruch.

Die Frage der horrenden Auslandsschulden von mehr als 160 Milliarden Dollar (145 Milliarden Euro) ist nach wie vor ungeklärt, eine Einigung mit den internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über neue Kredithilfen noch nicht erzielt, ein überzeugendes Wirtschaftsprogramm noch nicht sichtbar. So forderte der Bankenverband gerade, die Regierung müsse ihre wirtschaftspolitischen Zielsetzungen klarer darstellen. Dennoch wagt es auch die schwache Opposition bisher kaum, Kirchner auch nur zu kritisieren. Stattdessen greifen sie seine Regierungsmannschaft an.

Mehr zu bieten hat Kirchner da schon im Bereich Menschenrechte und Justiz. Schon wenige Tage nach dem Amtsantritt wechselte er die Spitzen von Militär und Polizei aus und setzte auch wichtige personelle Änderungen im diskreditierten Obersten Gericht durch. Das von Korruption geplagte Gesundheitssystem für Rentner wird gerade unter die Lupe genommen und die Verträge zur Privatisierung öffentlicher Versorgungsleistungen für Wasser, Strom, Gas und Telefon sollen einer rigorosen Prüfung unterzogen werden. Der politische Alltag wird aber vermutlich erst einsetzen, wenn die Serie von Provinzwahlen bis Jahresende abgeschlossen ist. Spätestens dann werden die Argentinier auch allmählich eine spürbare Verbesserung ihrer eigenen Lage einfordern.

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