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King Lear: Zahnlos im Narrenkleid

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Als Lear das erste Mal auftritt, wirkt er wie ein zahnloser, alter Löwe - ein leicht vertrottelter, ziemlich verschlagener Greis mit hochtoupierter weißer Mähne, der seine Töchter mit geheuchelten Liebeschwüren um ihr Erbe kämpfen lässt.

Viereinhalb Stunden später wird seine Leiche von jenen, die die blutigen Erbschaftsstreitigkeiten überlebt haben, gemeinsam mit seinen toten Kindern an der Rampe zum Mahnmal arrangiert. Dennoch steht die „König Lear“-Neuinszenierung, die bei der Premiere gestern, Mittwoch, Abend im Wiener Burgtheater statt der erwarteten Begeisterung lediglich freundlichen Beifall erntete, keineswegs ganz im Bann der Titelrolle.

Das liegt auch an Gert Voss. Natürlich ist der Lear für den 65-Jährigen, der mit seinem stets etwas weinerlichen Grundduktus viele seiner Rollen als groß gewordenes Muttersöhnchen anlegte, eine Idealrolle, schließlich definierte schon Shakespeare das Alter als „second childishness“ und sieht man dem großen Schauspieler bei seiner Gestaltung eines bockigen, launischen, kindlichen alten Mannes gerne zu. Allein: Voss, der an seinem Regisseur Luc Bondy im Vorfeld dessen Zurückhaltung beim Einmischen in das Entwickeln der Figuren lobte, verliebt sich früh in die kleinen Auszucker und großen Verwirrtheiten, die Lears Weg vom Königsthron ins Narrentum charakterisieren. Das nimmt dem Stück ein wenig die Fallhöhe und bringt den Schwestern, die mit dem irren Alten nichts zu tun haben wollen, zunächst Verständnis ein. Dass Regan und Goneril (Caroline Peters und Andrea Clausen) zwei wahre Mordschwestern sind, die vor nichts zurückschrecken, erfährt man viel später, dafür umso drastischer.

Das Treiben rund um Lear ist mindestens so interessant, mitunter sogar spannender. Clausen und Peters kämpfen zunächst Seite an Seite (und ungläubig beäugt von Gerd Böckmann und Johannes Krisch als ihre Gatten) um das, was ihnen vermeintlich zusteht. Der Kampf um die Macht und um die Liebe Edmunds (Christian Nickel) lässt ihre Herzen rasch erkalten und heißes Blut fließen. Adina Vetter steht da als aufrichtig liebende Schwester Cordelia vorhersehbar auf verlorenen Posten, doch haben Herzensgüte und Loyalität in Martin Schwab (als von Regan und ihrem Gatten des Augenlichts beraubter und grässlich zugerichteter Gloster), Philipp Hauß (als einer Intrige Edmunds auf den Leim gehender Edgar) und vor allem im großartigen Klaus Pohl (als wegen seiner Fürsprache für Cordelia verstoßener und den Leidensweg Lears in Verkleidung begleitender Kent) engagierte und überzeugend gestaltete Anwälte.

Berlin-Heimkehrerin Birgit Minichmayr hat als Narr in Männeranzug und Wollmütze Handke-Verse zu sprechen und baut ihre Beziehung zu „Onkelchen“ Lear auf sprachlichen und darstellerischen Verrenktheiten auf. Shakespeare lässt den Narren allerdings im Verlauf des Stückes einfach von der Bildfläche verschwinden, was Regisseur Bondy ironisiert, indem Minichmayr einfach als Requisit von einem Bühnenarbeiter beiseite geräumt wird. So darf sie nicht mehr miterleben, dass Lear am Ende inmitten von Leichen zu jener Weisheit findet, deren Mangel sie ihm bedauernd-spöttisch eingangs konstatiert hatte.

Warum hat dieser „König Lear“ (der in einer wenig auffallenden Neuübersetzung von Bondy, seiner Frau Marie-Louise Bischofberger und Geoffrey Layton gespielt wird) dennoch solche Längen, dass man sich ihn ohne Probleme auf drei Stunden gestrafft (und mit einer statt zwei Pausen) vorstellen könnte? Luc Bondys Inszenierung ist zutiefst konventionell, ganz alte Schule, setzt auf Theaterblut und Windmaschinen, konzentriert sich auf die Schauspielerarbeit. Das Bühnenbild von Richard Peduzzi, das mit hohen, verschiebbaren Türmen mitunter den Eindruck erweckt, das Stück spiele in San Gimignano, der toskanischen Kleinstadt mit ihrer mittelalterlichen Skyline, wirkt eher störend, am wohlsten fühlt sich das riesige Ensemble auf freier Fläche.

Bondy verzichtet auf deutlich gesetzte Konturen und klar betonte Handlungsbögen, sondern versucht, die Aufmerksamkeit gleichmäßig zu verteilen. Das führt zu einem Nebeneinander von szenischem Stillstand und aufregenden Close Ups, von Langatmigkeit und atemloser Dramatik, bei dem letztlich jeder Zuschauer selbst entscheiden kann, wo er seine eigenen Schwerpunkte setzt – auf den lauten Läuterungsprozess Lears oder das stille Leiden Glosters, der am Ende ebenso verlassen und verzweifelt wie der König über die Weiten der Bühne taumelt, auf die Genie-Blitze von Gert Voss (etwa, wenn er mit dem Blick nach oben ausruft: „Himmel, liebst du alte Männer?“) oder die unauffälligere Virtuosität von Klaus Pohl, der als Kent eine Lear-Doppelfigur zeichnet, auf die Beckett-Tramps, die Bondy umherirren lässt, oder die grimmigen Blutbäder, die er anrichtet.

Dieser „König Lear“ ist kein Triumph geworden, aber ein Abend, an dem das Theater in geradezu sympathisch altmodischer Weise auf dem beharrt, was es immer war: ein Ausnahmezustand, eine Auszeit, in dem das Nachdenken über das Menschsein im Mittelpunkt steht. Böse gesagt: ein Anachronismus. Optimistisch formuliert: eine unverzichtbare Notwendigkeit.

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