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Kanaren: Ansturm junger Immigranten

Die Kanarischen Inseln können dem Ansturm minderjähriger Immigranten aus Afrika kaum noch Stand halten. Seit Jahresanfang sind über 300 Minderjährige ua. aus Senegal, Mali gelandet.

Derzeit befinden sich 678 junge Immigranten in der Obhut der kanarischen Regierung. Doch es stehen nur 250 Heimplätze zur Verfügung. Während die erwachsenen Flüchtlinge nach 40 Tagen aus den Auffanglagern entlassen und großteils per Flugzeug aufs spanische Festland gebracht werden können, muss sich die kanarische Regierung um die minderjährigen Immigranten bis zu deren Volljährigkeit kümmern. Nur wenige spanische Regionen haben sich bisher bereit erklärt, von den Kanaren einige Kinder aufzunehmen.

Allein auf Teneriffa mussten in den letzten Wochen aus diesem Grund zwei neue Aufnahmezentren für jugendliche Immigranten errichtet werden. Aber selbst diese platzen schon jetzt wieder aus allen Nähten. „Wir haben erst am 5. August diese Schule in Tegueste umfunktioniert. Doch noch bevor wir komplett eingerichtet waren, hatten wir mit 90 Kindern und Jugendlichen bereits schon unser Aufnahmelimit erreicht“, erklärt Eduardo Medina, Direktor des Zentrums in Tegueste im Norden Teneriffas. Noch während er spricht, kommen zwei Kleinbusse mit 20 jugendlichen Afrikanern an, die im Zentrum auf Las Palmas keinen Platz mehr gefunden haben. „Wo soll ich die noch unterbringen?“, fragt sich Eduardo Medina.

Viele Familien schicken ihre minderjährigen Kinder in cayucos nach Europa, da sie wissen, dass diese nicht einfach abgeschoben werden dürfen. Einmal auf den Kanaren gelandet, sollen sie so schnell wie möglich arbeiten und Geld in die Heimat schicken. Doch was viele afrikanische Eltern anscheinend nicht wissen: „Hier in Spanien – und generell in Europa – ist es Kindern verboten, zu arbeiten. Während sie in Afrika schon mit sechs Jahren anfangen, die Familie mit zu unterstützen“, erklärt Sozialarbeiter Diego Domónguez und streichelt Younousse über den Kopf.

Der Bub aus dem Senegal hat nur ein Ziel: so schnell wie möglich einen Job zu finden. Doch muss er noch ein paar Jahre warten. Er ist erst zehn Jahre alt. „Nein, ich bin schon 15“, behauptet das aufgeweckte Kind in einem rudimentären Spanisch. Sozialarbeiter Domónguez schüttelt den Kopf: „Sie machen sich alle absichtlich älter, weil sie bei ihrer Ankunft erfahren haben, dass sie in Spanien erst mit 18 Jahren arbeiten dürfen.“

Der Druck, den die Familien auf die Kleinen ausüben, um schnell Euros zu schicken, ist enorm. „Doch hier müssen sie vorerst Spanisch lernen, erhalten Workshops, Einführungen in die spanische Kultur und Gesellschaft und ab September werden sie eingeschult.“ Wenn sie dann zum ersten Mal zu Hause anrufen und erzählen, was sie machen, legen sie häufig den Hörer traurig wieder auf. „Die Eltern zeigen kein Verständnis für ihre Situation. Doch viele genießen es sichtlich, hier mit anderen Kindern zu lernen, Fußball zu spielen, und können vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben richtig Kind sein“, erklärt Zentrumsleiter Eduardo Medina.

Die Stimmung ist fast wie im Sommer-Ferienlager. Die Kinder verstehen sich gut. Sie schweißt vor allem das gleiche Schicksal, aber auch die gleiche grausame Erfahrung zusammen. Der 13-jährige Mamadou Wade aus Senegal wird immer sehr schweigsam, wenn er von seiner sechs Tage langen Überfahrt im cayuco erzählen soll. „Ich hatte so viel Hunger und Durst, dass mir ganz schlecht war. Außerdem konnte ich mich kaum bewegen. Es war das Schlimmste, was ich je mitgemacht habe“, erklärt er, schaut zu Boden und fällt wieder in tiefes Schweigen.

Sozialarbeiter und Psychologen kümmern sich um die Kleinen. „Solche Erfahrungen ohne die Unterstützung der Familie zu verdauen, ist für sie sehr schwierig“, meint Sozialarbeiterin Alba Garcia. „Aber Gott sei Dank haben sie die Gemeinschaft mit den anderen Kindern und erleben hier jeden Tag etwas Neues“, so Garcia. Sie erinnert sich noch an die ersten Tage im Heim: „Minutenlang standen sie mit offenem Mund vor dem laufenden Wasserhahn in ihrem Bad, aus dem klares, frisches Trinkwasser kam. Das hatten viele noch nie gesehen. Andere wussten gar nicht, was sie mit den Decken anfangen sollten, die wir ihnen gegeben haben. Sie legten sich einfach damit auf den Boden und rührten die Betten gar nicht an.“

Die Sozialarbeiter in Tegueste rechnen damit, dass der Zustrom von Minderjährigen nicht so schnell abreißen wird. „Allein die Tatsache, dass sie ihren Freunden zu Hause erzählen, dass sie hier drei Mahlzeiten, weiße Turnschuhe und Kleidung bekommen, zur Schule gehen und außerdem täglich Fußball spielen und zum Strand gehen können, muntert automatisch andere Kinder in ihrer Heimat auf, auch die gefährliche Überfahrt im cayuco zu wagen“, befürchtet Zentrumsleiter Eduardo Medina.

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