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Julia Kührer wird seit fünf Jahren vermisst

Sie sprach an der Busstation in Pulkau (Bezirk Hollabrunn) mit drei Jugendlichen und wurde dabei von einem Zeugen beobachtet. Seither ist Julia Kührer vermisst. Am kommenden Montag jährt es sich zum fünften Mal, dass die damals 15-Jährige spurlos verschwand.
Grafik: Der Fall Julia Kührer

Für die Polizei bleibt der Fall rätselhaft: “Es fehlt der Ermittlungsansatz“, fasste Helmut Greiner, Sprecher des Bundeskriminalamts (BK), die umfangreichen, aber bisher erfolglosen Bemühungen der Fahnder zusammen.

Verwandter zu Fahnder: “Du kennst sie besser als ich”

Das Leben Kührers in den Tagen vor ihrem Verschwinden am 27. Juni 2006 wurde umfangreich durchleuchtet, vom Landeskriminalamt Niederösterreich ebenso wie vom im Jänner 2010 neu geschaffenen Referat für “Cold Case Management” im BK. Immer klarer hat sich dabei herausgestellt, dass es sich um eine einzige Frage dreht: Mit wem stand Julia Kührer von 13.33 Uhr bis 13.44 Uhr an der Bushaltestelle und unterhielt sich?

Die Ermittler haben im Laufe der Jahre ein ungemein genaues Porträt des Mädchens gezeichnet – so genau, dass ein naher Verwandter der Verschwundenen zu einem Fahnder meinte: “Du kennst sie besser als ich.” Julia Kührer war demnach ein pubertierender Teenager wie viele andere auch: verschlossen zu den Eltern, sehr kontaktfreudig unter ihresgleichen. Das Zeugnis war alles andere als schlecht. Das Mobiltelefon soll dauernd im Einsatz gewesen sein. Allerdings – und das ist einer der sehr merkwürdigen Punkte des 27. Juni 2006 – kamen an jenem Tag keine Anrufe Julias bei ihren Freunden an.

Bekannt ist auch, dass ihr Freund hin und wieder Cannabisprodukte konsumierte und Kührer da fallweise dabei war. Die Ermittler halten dies aber nicht für sonderlich auffällig. Eher schon die Tatsache, dass sie auf diese Weise drei Jugendliche bzw. junge Erwachsene kennengelernt haben könnte, die im Vorjahr in Zusammenhang mit der Causa vorübergehend festgenommen wurden. Verdachtsmomente ließen sich allerdings nicht erhärten, die drei wurden freigelassen.

Die Rekonstruktion der letzten Tage vor ihrem Verschwinden brachte keine neuen Ansätze: Weder ihr Aufenthalt beim Donauinselfest am 24. Juni noch der Besuch einer Motocross-Veranstaltung in Schrattenthal am selben Tag förderte irgendwelche Anhaltspunkte zutage, die mit ihrem Verschwinden in Verbindung gebracht werden könnten. Dass sie in Schrattenthal war, bezeichnen die Fahnder eher als Zufall. Sie soll sich dort gelangweilt haben und wurde von ihrem Bruder nach Hause gebracht. Sonntag, den 25., und Montag, den 26. Juni, verbrachte Kührer abgesehen vom Schulbesuch in Horn zu Hause.

Auch am Dienstag war Kührer in der Schule. Um 13.33 Uhr kam sie mit dem Bus aus Horn in Pulkau an. Zu diesem Zeitpunkt wollte ein Bekannter Kührers am Gemeindeamt das Aufgebot für seine Hochzeit bestellen. Weil der Bürgermeister gerade nicht anwesend war, stellte sich der Mann vor den Eingang des Amts, um eine Zigarette zu rauchen. Dabei sah er Julia im Gespräch mit zwei Jugendlichen. Dabei stand auch ein silbergrauer Wagen, in dem eine weitere Person saß. Der Bürgermeister kam, und der Zeuge ging mit ihm in das Amt. An Details zu dem Auto wie Kennzeichen oder Typ konnte sich der Mann nicht mehr erinnern. Um 13.44 Uhr fuhr der Bus in der Gegenrichtung vor. Julia war verschwunden.

Sie tauchte auch nicht mehr im örtlichen Bad auf, wo sie mit einer Freundin verabredet war. Diese rief Kührer mehrfach am Handy an, doch diese meldete sich nicht mehr. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten benützte die 15-Jährige an jenem Tag ihr Mobiltelefon überhaupt nicht. Das Gerät ist bis heute weg. Die Einloggdaten zeigten, dass es sich bis 28. Juni im Raum Horn befand, dann dürfte der Akku leer gewesen sein. Auch zwei dicke Langenscheidt-Wörterbücher (Englisch-Deutsch und Deutsch-Englisch) blieben bisher unauffindbar.

Motiv bleibt rätselhaft

Eines der Hauptprobleme scheint das fehlende Motiv zu sein. Julia hatte Freunde, sie hatte zumindest keine schweren Drogenprobleme und sie schien auch nicht depressiv. Zu denken gibt den Ermittlern allerdings, dass sich jene Personen, mit denen Kührer nach ihrem Aussteigen aus dem Bus sprach, bisher nicht gemeldet haben. Selbst eine vom Innenministerium ausgesetzte Belohnung von 25.000 Euro plus weitere 5.000 Euro der Gemeinde lockten niemanden, nähere Angaben zu machen. Und so bleiben die quälenden Fragen: Taucht Julia wieder auf? Fiel sie einem Unfall oder einem Verbrechen zum Opfer? Wurde sie gekidnappt? Oder setzte sie sich aus bisher unbekannten Gründen ab?

Das Bundeskriminalamt bittet weiterhin um Hinweise unter Zusicherung strengster Vertraulichkeit unter der Telefonnummer 01-24836-85025 DW oder -85026 DW.

Chronologie der Ereignisse:

Wien. 27. Juni 2006: Die 16-jährige Julia Kührer aus Pulkau in Niederösterreich kommt von der Schule nicht mehr nach Hause. Sie wird zuletzt beim Aussteigen aus einem Linienbus von Horn kommend auf dem Hauptplatz ihrer Heimatgemeinde gesehen. Julia ist zum Zeitpunkt ihres Verschwindens ungefähr 1,65 Meter groß und etwa 50 Kilo schwer. Das Mädchen hat eine Narbe an der Unterlippe, Muttermale im Gesicht, schwarz gefärbte schulterlange Haare und braune Augen. In der Folge gehen nur sporadisch Hinweise zu dem Fall ein.

November 2006: Trotz Suche bleibt die Jugendliche verschwunden. Ein Ermittlungsteam des Landeskriminalamtes Niederösterreich (LKA NÖ) bearbeitet den Fall.

Februar 2008: Der Wiener Anwalt Gerald Ganzger, der auch das Entführungsopfer Natascha Kampusch vertrat, wird von den Eltern beauftragt, sich des Falles anzunehmen. Die Eltern ersuchen, bisherige Hinweise noch einmal zu bewerten und den Akt durch die Polizei evaluieren zu lassen.

Juni 2009: Das LKA NÖ wendet sich an die Öffentlichkeit mit dem Ersuchen um neue Hinweise auf die fast seit drei Jahren verschwundene Julia. In den Medien tauchen immer wieder Berichte dahingehend auf, wonach das Mädchen in Wien, später im Bundesgebiet und auch im Ausland gesehen worden sein soll. Laut Ermittlern hat sich keine einzige Information bestätigt. Auch keine persönlichen Gegenstände der Vermissten seien aufgetaucht.

Jänner/Februar 2010: Nachdem die Spuren erschöpft sind und die Ermittlungen stocken, rollt das Bundeskriminalamt (BK) den Fall um die vermisste Niederösterreicherin neu auf. Vier Kernermittler der Einheit “Zielfahndung Opfer” kümmern sich ausschließlich darum. Sie arbeiten 20 Akten neu auf und führen Befragungen durch.

März 2010: Neuerlich wendet sich die Polizei an die Öffentlichkeit. Mehr als 150 Hinweise gehen beim BK binnen weniger Wochen ein. Diese reichen vom Wahrsager über Energetiker bis zu glaubwürdigen Aussagen von Zeugen.

März 2010: Ein Jugendlicher liefert einen entscheidenden neuen Hinweis: Julia soll vor ihrem Verschwinden nicht beim Aussteigen aus dem Schulbus zuletzt gesehen worden sein, sondern zu einem späteren Zeitpunkt: Um 13.30 Uhr am 27. Juni 2006 soll das Mädchen am Hauptplatz in Pulkau vis-a-vis der Post mit drei Jugendlichen gestanden sein, die aus einem silbernen Auto gestiegen waren. Um dieses Trio konzentriert sich nun die Arbeit der Ermittler.

26. April 2010: Der Bürgermeister von Pulkau veranstaltet gemeinsam mit dem BK einen Informationsabend für die Dorfjugend. Die Mauer des Schweigens soll gebrochen werden.

10. Mai 2010: Drei Verdächtige werden festgenommen. Es soll sich dem Vernehmen nach um die drei Jugendlichen handeln, mit denen Julia zuletzt gesehen worden ist. Sie stehen unter dem dringenden Verdacht, bis dato bewusst Informationen rund um das Verschwinden des Mädchens zurückgehalten zu haben.

12. Mai 2010: Alle drei Festgenommenen werden enthaftet. Die Indizien reichen laut Haftrichter in Korneuburg nicht für einen hinreichend dringenden Tatverdacht aus, um dem Trio weiter die Freiheit zu entziehen. Ihre Anwälte üben heftige Kritik an den Behörden und legen Beschwerde ein.

19. Mai 2010: Ernst Geiger, Leiter der Abteilung Ermittlungen, Allgemeine und Organisierte Kriminalität im Bundeskriminalamt, räumt ein, dass es nach der Enthaftung der Verdächtigen für die Ermittler “Zurück an den Start” heißt. “Wir wissen bis jetzt nicht, wonach wir suchen”, räumt er vor Journalisten ein.

4. August 2010: Ein neues Foto der Abgängigen, bei dem das Institut für Anthropologie der Universität Freiburg berechnet hat, wie Kührer vier Jahre nach ihrem Verschwinden aussehen könnte, bringt auch neue Hinweise. Einerseits betrifft das ihren Besuch des Donauinselfests am 24. Juni 2006, andererseits eine Moto-Cross-Veranstaltung in Schrattenthal, die sie am Abend des selben Tages besuchte. Doch auch die Einvernahmen anderer Besucher der Motorsport-Veranstaltung ergeben nichts Stichhaltiges.

11. April 2011: Das Bundeskriminalamt setzt 25.000 Euro Belohnung für Hinweise aus, die Klärung des Falles beitragen. Doch auch das hilft zunächst nicht. 125 Zeugen und 247 Hinweise haben bisher keine konkrete Spur Kührers erbracht.

(APA)

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