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Jesuiten wollen das Schweigen aller Opfer brechen

Langsam zündet Christian Herwartz eine Kerze nach der anderen an. "Jede steht für den Mut eines Menschen, der gesprochen hat", sagt der Pater. Einige in den Kirchenbänken stützen die Stirn auf die Hände, pressen die Lippen zusammen. Herwartz ahnt, was Missbrauchsopfer aus den Jesuiten-Kollegs durchmachen. Er gibt zu: "Vieles kann ich nicht sagen, weil es so ekelig ist."
115 Opfer in deutschem Missbrauchsskandal
Dennoch geht von dem Gebet, zu dem die Jesuiten am Mittwochabend in Berlin geladen haben, vor allem diese Botschaft aus: Jeder, der missbraucht wurde, soll sich melden, soll reden. “Wir wollen die Angst vor der Wahrheit verlieren.”

Zweieinhalb Stunden haben Herwartz und sein Ordensbruder Patrick Zoll für das Gebet angesetzt. Bis zu 200 Menschen kommen in die Kirche Maria Regina Martyrium in Charlottenburg, einem wuchtigen, fensterlosen Nachkriegsbau mit grauen Betonwänden. Die Kerzen bringen Wärme in die mit Neonlicht schwach ausgeleuchtete Halle. Viele Teilnehmer bleiben bis zum Schluss, die meiste Zeit verharrt die Gemeinde im stillen Gebet. Nur selten erklingt mit zaghaften Stimmen ein leiser Kanon. Eine Reihe von Männern um die fünfzig sitzt und kniet in den Bänken – Betroffene? Wenn, dann wissen es möglicherweise nur sie selbst. Dieses Schweigen wollen die Jesuiten brechen.

Nach einer Stunde die deutlichsten Worte über den Skandal, der vom Berliner Canisius-Kolleg ausging und seit Wochen für Empörung sorgt: “In unserer Mitte wurden Menschen, die uns anvertraut waren, Kinder, hundertfach geschlagen, auf den bloßen Körper. Krankenhausreif wurden sie geschlagen”, sagt Pater Herwartz und sein langer, grauer Vollbart zittert dabei. “Sie wurden manipuliert zu schweigen, es ist ihnen die Würde genommen worden.” Die Täter dagegen seien versetzt worden. “Manche wurden sogar noch umjubelt und befördert”, bemerkt der Pater bitter. Er spricht von Wut, Zorn, Trauer und Enttäuschung. Und sein Ordensbruder Zoll spricht von einer “Zeit der Umkehr”.

Einige der Besucher, die in der Kirche schweigend beten, äußern sich vor der Tür im Scheinwerferlicht der Kameras. Dass sie empört seien, entsetzt oder auch nur überrascht über das Ausmaß der Missbrauchsfälle – Gerüchte habe es ja immer gegeben, meint einer. Die Mutter eines Canisius-Schülers erzählt von einem jungen Pater, der so vertrauenserweckend war. Eine andere, evangelische Frau, ist einfach nur gekommen, um den Jesuiten Solidarität zu zeigen. Die heutigen jungen Pater könnten ja nichts dafür. Doch auch sie spricht von einem Schock. ”Ich habe selbst vier Söhne und weiß, wie empfindlich die im heranwachsenden Alter sind.”

Der Jesuiten-Orden hat die Berliner Anwältin Ursula Raue mit der Untersuchung bauftragt. Bisher haben sich 115 Betroffene gemeldet.
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