Ein Verband mehrerer Medien wie "Spiegel", "Guardian" oder ZDF hat die Angaben durch Recherchen bestätigen und die mutmaßlichen Opfer identifizieren können.Laut den am Dienstag veröffentlichten Berichten wurde ein Teenager kaltblütig erschossen, als er seinen zuvor getroffenen Bruder bergen wollte. Wenig später wurde auch der Vater der beiden getötet.
Das Interview war im vergangenen Oktober auf X veröffentlicht worden, gegen den Willen des Interviewpartners "Sergeant D.". Ein junger Israeli hatte den gebürtigen US-Amerikaner unter Vorspiegelung falscher Tatsachen - der Sniper sollte seine Heldentaten anonym schildern - interviewt. Zudem entstanden die belastenden Aussagen in einer Interviewpause.
Der palästinensische Journalist Younis Tirawi veröffentliche das Gespräch trotzdem und berief sich auf das öffentliche Interesse an den Schilderungen. Reporter von "Spiegel", ZDF, "Guardian", der belgischen Zeitung "De Tijd" sowie des Netzwerks "Arab Reporters for Investigative Journalism" konnten das geschilderte Vorgehen in der am Dienstagnachmittag veröffentlichen Recherche nachzeichnen.
Sniper-Duo soll mehr als 100 Menschen umgebracht haben
Die beiden deutschen Medien beauftragten zunächst das Münchner Fraunhofer-Institut damit, die Authentizität des Videointerviews mit dem Soldaten zu überprüfen. Die Datenexperten fanden in dem 160 Minuten langen Material keine Anzeichen, die "auf eine inhaltliche Veränderung hindeuten". "Sergeant D." brüstete sich in dem Interview damit, mit seinem aus München stammenden Partner Daniel G. mindestens 100 bis 120 Menschen in Gaza umgebracht zu haben.
Die beiden Scharfschützen hatten im November 2023 in einem Hochhaus im Viertel Tal al-Hawa in Gaza-Stadt Position bezogen. Ein damals entstandener Videoclip zeigt einen regungslosen Mann, über den sich ein anderer Mann beugt, woraufhin ein Schuss fällt und der zweite Mann nach hinten fällt, am Kopf blutend.
Im Videointerview sagt "Sergeant D." es habe sich um seine "erste Tötung" gehandelt. "Er war nicht bewaffnet, aber er befand sich in einer Kampfzone. Und er hatte keine guten Absichten." Er tue sich schwer zu verstehen, warum der zweite Mann dies getan habe. "Was ist denn so wichtig an einer Leiche?"
Rechercheverband identifizierte die Getöteten
Die Journalisten konnten die Opfer durch Recherchen im Gazastreifen identifizieren. Beim zunächst getöteten Mann habe es sich um den 26-jährigen Mohammed Doghmosh gehandelt, der sich mit seinem Cousin Youssef auf die Straße gewagt hatte. Youssef konnte nach den Schüssen flüchten und alarmierte Mohammeds Bruder Salem, wodurch er dessen Schicksal besiegelte.
Der 19-jährige starb nämlich beim Versuch, seinen großen Bruder zu bergen. Später starb dann auch noch der Vater der beiden, Montasser, durch Schüsse der Sniper. Er wollte die beiden Leichen mit einem weiteren Verwandten in Sicherheit bringen. Dieser wurde durch Schüsse verletzt.
Das Rechercheteam konnte mit Videos, Fotos und Satellitenbilden an Ort und Stelle den Ort lokalisieren, an dem die Brüder Doghmosh wohl getötet wurden, und zwar in der Munir-al-Rajjis-Straße, wenige Hundert Meter vom Gebäude entfernt, in dem die beiden Scharfschützen postiert waren. In dem Gebäude finden sich Spuren, die auf die Anwesenheit der beiden hindeuten, etwa das auf die Wand gemalte Symbol der Scharfschützeneinheit.
Keine Hinweise auf Hamas-Zugehörigkeit der Getöteten
Keine Hinweise gab es darauf, dass die getöteten Männer der Hamas oder dem Islamischen Jihad angehören. Ein Mitglied der Familie sei jedoch vor Jahren in die Entführung eines israelischen Soldaten verwickelt gewesen und habe die salafistisch-jihadistische Terrororganisation "Armee des Islam" gegründet, schreibt der "Spiegel".
Doch lag die Familie Medienberichten immer wieder mit der Hamas im Streit, im Vorjahr richtete die im Gazastreifen herrschenden Terrororganisation das Familienoberhaupt der Doghmoshs hin, wegen des Vorwurfs, mit israelischen Behörden verhandelt zu haben.
Im Bericht werden Zweifel angeführt, ob der mutmaßlich mit einer Drohne angefertigte Videoclip tatsächlich die behauptete Tötung zeigt. Die drei Mitglieder der Familie Doghmosh dürften aber wie von den Angehörigen behauptet am 22. November 2023 gestorben sein. Der "Spiegel" konnte nämlich entsprechende Sterbeurkunden einsehen. Zudem stehen ihre Namen auf der Liste der im Gazastreifen getöteten Personen des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums.
"Vorliegende Beweise deuten auf Kriegsverbrechen hin"
Entsetzt über den Vorgang zeigte sich der Tel Aviver Philosophieprofessor Asa Kasher, der am Ethikkodex der israelischen Armee mitgearbeitet hat und als deren "Hausphilosoph" gilt. "Es handelt sich ohne Zweifel um eine Rettungsaktion. Das ist etwas, das respektiert werden sollte", sagte er mit Blick auf die zweite Tötung.
Kasher widerspricht auch klar Angaben von "Sergeant D.", wonach Soldaten imaginäre Linien ziehen und jeden erschießen, der diese überschreite - egal ob bewaffnet oder nicht. "Ein Zivilist darf nicht automatisch zum Ziel werden, nur weil er sich in einem Gebiet aufhält, das zur Kampfzone wird", betont Kasher.
Unbewaffnete Zivilisten und auch die Rettung von Verwundeten oder Toten sind vom Völkerrecht besonders geschützt. "Die vorliegenden Beweise deuten auf ein Kriegsverbrechen hin", sagte der an der US-Eliteuni Stanford lehrende Völkerrechtsprofessor Tom Dannenbaum dem "Guardian".
Sniper und israelische Armee wortkarg
Die beiden Scharfschützen wollten sich in den monatelangen Recherchen nicht äußern, auch von der israelischen Armee war auf Dutzende Anfragen keine substanzielle Stellungnahme zu den Vorwürfen zu erhalten. Ein Armeesprecher sagte dem "Guardian" lediglich, dass die israelischen Kräfte "unter strikter Einhaltung der Einsatzregeln und des Völkerrechts agieren und die möglichen Vorkehrungen treffen, um Schaden an Zivilisten zu mildern."
Dem "Spiegel" teilte die Armee im April mit, man untersuche "Ereignisse dieser Art" und gehe "mit Befehls- und Disziplinarmaßnahmen dagegen vor". Beim Verdacht einer Straftat werde eine Untersuchung durch die Militärpolizei eingeleitet. Ob dies in diesem Fall erfolgte, ließ das Militär auf wiederholte Nachfrage offen.
(APA)