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Irakische Familien auf der Flucht

Vier Patronen liegen vor der Haustür, daneben ein Zettel mit der Aufschrift: "Haut ab, oder wir bringen Euch um." Zwei Tage später ist das Haus leer.

Die Familie ist zu Verwandten in einem anderen Viertel gezogen. Mit diesen und anderen Mafia-Methoden vertreiben bewaffnete Banden im Irak Familien aus ihren Häusern. Es trifft Familien, die als Sunniten in einem mehrheitlich von Schiiten bewohnten Viertel leben, oder umgekehrt Schiiten, die zum Beispiel in den vorwiegend von Sunniten bewohnten Vierteln West-Bagdads leben.

Einer von ihnen ist der 58 Jahre alte Bauer Mahdi Sadek, der seine Felder in Bagdads westlichem Vorort Abu Ghraib aufgegeben hat. Jetzt lebt er mit seiner Familie in einem Zeltlager im Al-Shula-Viertel. „Mehr als 35 Jahre meines Lebens habe ich dort verbracht, hier bin ich jetzt nur, weil ich Sicherheit suche“, klagt er. Vielen seiner Nachbarn sei es ähnlich ergangen. Sie seien nach Al-Kut geflohen oder zu Verwandten in die hauptsächlich von Schiiten bewohnten Städte Nassiriya und Diwaniya.

Besonders viele Familien fliehen aus den Ortschaften Latifiya, Nahrawan, Al-Madain, Samarra, Falluja, Haswa und einzelnen Stadtvierteln von Bagdad wie Amiriya oder Al-Dura. Nach Angaben der irakischen Regierung haben inzwischen 13.750 Familien aus Angst um ihr Leben ihre Häuser verlassen. Irakische Beobachter schätzen jedoch, dass die Dunkelziffer viel höher liegt, weil nur diejenigen Vertriebenen statistisch erfasst werden, die in Lagern, alten Kasernen oder leer stehenden Gebäuden leben. Wer bei Verwandten Unterschlupf findet, taucht in der Statistik nicht auf. Die Regierung verteilt inzwischen Lebensmittel, Decken, Kochgerät und andere Hilfsgüter in den Lagern.

Vertreibung und Zwangsumsiedlungen hatte es auch schon unter dem Regime von Saddam Hussein gegeben, allerdings damals praktiziert vom Staat. Dieser hatte sich beispielsweise das Ziel gesetzt, die einst mehrheitlich von Kurden bewohnte Öl-Stadt Kirkuk zu „arabisieren“. Heute ist die Lage ganz anders. Es herrscht Anarchie. Der Staatsapparat, der jetzt in der Übergangsphase zwischen der alten und der neuen Regierung ohnehin wie gelähmt ist, schützt seine Bürger nicht vor der Gier der Plünderer und dem blinden Hass der Fanatiker.

So hat denn auch Salim Mohammed, der in einem Bagdader Vertriebenenlager lebt, nur Hohn für den Versuch von Übergangspräsident Jalal Talabani übrig, mit den bewaffneten Gruppen ins Gespräch zu kommen. „Talabani soll mal schauen kommen, damit er sieht, was die Bewaffneten mit uns machen und unter welchen Umständen wir leben müssen“, spottet der 47 Jahre alte Frühpensionist.

In den ersten zwei Jahren nach der US-Invasion hielt der Kitt der über Jahre gewachsenen nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Glaubensrichtungen in den meisten Vierteln der Hauptstadt noch. Seit dem Terroranschlag auf ein schiitisches Heiligtum in Samarra am 22. Februar gilt für einen Teil der Iraker der Grundsatz: „Jeder für sich, Wir gegen die anderen.“ Das Tabu-Wort „Bürgerkrieg“ will aber trotzdem kaum einer in den Mund nehmen.

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