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Internationale Pressestimmen zur weißrussischen Präsidentenwahl

Proteste und Ausschreitungen nach Präsidentenwahl in Weißrussland.
Proteste und Ausschreitungen nach Präsidentenwahl in Weißrussland. ©AFP
Über die blutige Unterdrückung der Proteste nach dem mutmaßlichen Betrug bei der Präsidentenwahl in Weißrussland (Belarus) schreiben die Zeitungen am Dienstag:

"Nepszava" (Budapest):

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"Die unfassbar brutale Polizeigewalt demonstriert, warum (der amtierende Präsident) Alexander Lukaschenko mit Recht Europas letzter Diktator genannt wird. (…) Ihm bleibt ein einziges Mittel: der Terror. Da er es ist, der die bewaffneten Staatsorgane kommandiert, wird es ihm wahrscheinlich gelingen, die eigene Bevölkerung niederzuringen. Doch was ist dann? Er wird seine Legitimität nicht nur in den Augen der Menschen, sondern auch vor seiner eigenen Nomenklatur verlieren. Die Türen zum Westen sind ihm verschlossen, und auch Russland hat an seinem Schicksal kein Interesse mehr."

"Nesawissimaja Gaseta" (Moskau):

"Alexander Lukaschenko hat keine Angst vor dem Zorn der europäischen Nachbarn und unterdrückt auf das Brutalste die friedlichen Proteste der Bürger gegen die Fälschungen der Wahlergebnisse. Es gab Tausende Festnahmen und Dutzende Verletzte. Die Präsidentenkandidatin Swetlana Tichanowskaja hat die Ergebnisse der Wahl nicht anerkannt und will eine Neuauszählung der Stimmen erreichen. Auch die Bürger wollen weiter um ihre Stimme kämpfen.

Experten gehen davon aus, dass sich die Lage weiter verschärft. (…) Lukaschenko ist nicht bereit anzuerkennen, dass das belarussische Volk gegen ihn protestiert. Vor einer Woche sah er noch Russland am Steuerrad der Proteste. Nun hat er die Liste der Länder erweitert, die gegen Belarus sein sollen - und zwar auf Tschechien, Polen und die Ukraine."

"The Times" (London):

"Auf umfangreiche Proteste in der Hauptstadt Minsk und anderen Städten hat die Bereitschaftspolizei mit Massenverhaftungen reagiert. Die Antwort der westlichen Demokratien sollte unmissverständlich sein. Die Opposition gegen Alexander Lukaschenko demonstriert großen Mut und Zurückhaltung. Die USA und die EU haben in den vergangenen Jahren Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime als Reaktion auf eine vermeintliche Liberalisierung erheblich gelockert. Diese Sanktionen müssen wieder in Kraft gesetzt werden. Europa darf Wahlfälschung und Unterdrückung nicht als normalen Bestandteil bürgerlichen Lebens betrachten. Und wenn Belarus sich endlich die Werte einer liberalen Demokratie zu eigen macht, wird das Volk wissen, wer seine Verbündeten waren."

"Irish Times" (Dublin):

"Lukaschenkos Sieg wurde zuerst von dem früheren Verbündeten Wladimir Putin und dem neu gefundenen Verbündeten China begrüßt. Obwohl er sich mit Russland zerstritten hat - vor allem wegen des belastenden Ölpreisanstiegs und Forderungen, wonach sich Belarus in eine neue, von Russland geführte Union integrieren solle sowie wegen unbewiesener Behauptungen über eine Einmischung (Russlands) in die Wahl - wird Lukaschenko bewusst sein, dass (der russische Präsident) Putin alles dafür tun wird, dass sein Regime nicht von einer westlich orientierten Allianz abgelöst wird. Das würde vermutlich sogar eine militärische Intervention in dem Land einschließen, das Moskau zu seinem Einflussbereich zählt. (…)

Der Geist der Revolution in Osteuropa von 1989 beginnt, dieses Relikt des Sowjetblocks zu bedrängen. Lukaschenko mag sich durchaus nervös an den grausigen Abgang von (Rumäniens kommunistischem Diktator Nicolae) Ceausescu erinnern. Es ist Zeit für ihn zu gehen."

"El Mundo" (Madrid):

"Nach mehr als 25 Jahren politischen Stillstands tut sich etwas in Belarus (Weißrussland). Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission soll (Amtsinhaber) Alexander Lukaschenko bei der Wahl am Wochenende die Unterstützung von fast 80 Prozent der Wähler erhalten haben, eine Zahl, die die Opposition unter Führung von (Präsidentschaftskandidatin) Swetlana Tichanowskaja als betrügerisch und inakzeptabel bezeichnet. Dies sieht auch ein Teil der Bürger so. Sie gehen seit Sonntagnacht auf die Straßen der wichtigsten Städte des Landes, einschließlich der Hauptstadt Minsk. (…)

Tichanowskaja (…) rief Lukaschenko auf, die Macht abzugeben und einen demokratischen Übergang zuzulassen. Tatsächlich aber wird eine Veränderung schwierig, solange (der russische Präsident Wladimir) Putin weiterhin Lukaschenko stützt. (…) Und es ist auch nicht verwunderlich, dass der Opposition das Beispiel der benachbarten Ukraine vor Augen steht, wo Putin einen demokratischen Wandel und eine Annäherung an die EU verhinderte sowie einen Konflikt auslöste, der Tausende Tote verursacht und das Land gespalten hat. Tichanowskaja (…) scheint eine solide Führung aufgebaut zu haben, die die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erhalten sollte, um ein seit viel zu langer Zeit bestehendes Regime zu beenden."

"Neue Zürcher Zeitung":

"Die große Frage ist, wie es nun weitergeht. Lukaschenko ist angeschlagen, er wirkt wie ein Mann im Spätherbst seiner Herrschaft. Zwei Säulen seiner Macht sind brüchig geworden: Erstens kann er sich der Unterstützung der breiten Bevölkerung nicht mehr sicher sein. Das ist ein großer Unterschied zu früher. (…) Zweitens genießt Lukaschenko nicht mehr vollen Rückhalt im Kreml. Ein Vierteljahrhundert lang half ihm Russland bei der Absicherung seiner Herrschaft, indem es das Nachbarland mit vergünstigter Energie subventionierte. Damit ist es vorbei, zumindest vorläufig. (…)

Noch scheinen die Sicherheitsbehörden jedoch voll hinter dem Präsidenten zu stehen. Die Auszählung der Stimmen ergab das 'gewünschte' Resultat, und ebenso beweist die Polizei ihre Loyalität, indem sie hart gegen die vielen tausend friedlichen Demonstranten vorgeht. In dieser Machtprobe sitzt das Regime vorerst am längeren Hebel. Ein Szenario, in dem die Demokratiebewegung der Repression trotzt und standhaft eine Überprüfung des Resultats verlangt, ist gleichwohl nicht auszuschließen."

"Tages-Anzeiger" (Zürich):

"Das Volk habe gewählt, doch das Regime habe nicht zugehört, sagte Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja und reklamierte den Wahlsieg für sich. Auch wenn Letzteres fraglich ist: Die politische Novizin hat viele Menschen mobilisiert. (Präsident Alexander) Lukaschenkos einstige schweigende Mehrheit droht sich im Nichts aufzulösen.

Die Opposition hat zu neuen Protesten aufgerufen. Doch es wird nicht einfach, den Achtungserfolg weiterzuziehen: Weißrussland hat keine starke Zivilgesellschaft, keine Oppositionspartei, keine rebellierenden Sicherheitskräfte und keine kritische Elite. Doch auch für Lukaschenko ist trotz Wahlerfolgs noch nichts gewonnen: Wenn er es nicht schafft, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, wird er immer öfter brachiale Gewalt brauchen, um an der Macht zu bleiben - und das Volk immer weiter von sich wegtreiben."

"Jyllands-Posten" (Aarhus):

"Alexander Lukaschenko hat sich eine weitere Amtszeit als Präsident erschwindelt. Autoritäre Staatschefs wie er bilden sich ein, dass ihr Regime Legitimität erlangt, weil Wahlen abgehalten werden. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die Länder der EU müssen auf das Wahlergebnis mit einer Wiederaufnahme von harten Sanktionen gegen Belarus reagieren. Über die Jahre hat das Land Russland und den Westen oft gegeneinander ausgespielt. Belarus hat sich niemals um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union bemüht, und aktuell hat die EU kein echtes Interesse daran, außer zu verhindern, dass das Land ein russischer Vasallenstaat wird. Und im Jahr 2020 ist es beschämend, dass in Europa ein Staat wie Belarus existieren kann - mit einem Präsidenten mit ausgesprochener Verachtung für Demokratie und Menschenrechte."

"NRC Handelsblad" (Amsterdam, Online-Ausgabe):

"Weißrussland ist für Russland von höchster strategischer Bedeutung und Moskau will das Land um jeden Preis in seiner Einflusssphäre behalten. (…) Moskau dürfte, wie auch immer, bei einem 'Maidan-Szenario', in dem eine pro-westliche Regierung an die Macht gelangt, nicht abseits bleiben. Die gegenwärtige politische Krise in Weißrussland kann sich daher leicht zu einer neuen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen auswachsen."

"Kaleva" (Oulu):

"Lukaschenko ist als der letzte Diktator Europas bezeichnet worden. Andererseits haben sich viele Länder in die von Lukaschenko gewiesene Richtung verändert. Nach Russland ist auch die Türkei zu einem autoritären Präsidialsystem übergegangen. Polen, Ungarn und einige Balkanstaaten befinden sich im festen Griff von nationalistischen Parteien. Diese Länder werden sicherlich ganz genau schauen was passiert, wenn die Menschen genug haben von Einschränkungen der bürgerlichen Freiheit und von der Gängelung von oben."

"Rzeczpospolita" (Warschau):

"Alexander Lukaschenko hat blitzschnell die Seite gewechselt. Sofort nachdem Russland seine Wahl für eine sechste Amtszeit anerkannt hat, kritisierte er den Westen und behauptete, die Proteste nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses würden von Polen, Tschechien und Großbritannien gesteuert. In den vergangenen Monaten hatte sich Lukaschenko um eine Annäherung an die EU bemüht, um angesichts des wachsenden Drucks aus Moskau mehr Manövrierraum zu bekommen.

Angesichts einer existenziellen Bedrohung des Regimes durch die demokratische Opposition hat Lukaschenko indes erkannt, dass er erneut auf den Kreml setzen muss. Es ist nicht schwer vorherzusehen: Wenn in den kommenden Tagen die Ereignisse in Belarus einen noch brutaleren Verlauf nehmen und der Westen Sanktionen verhängt, dann wird der Diktator (…) Wladimir Putin die Souveränität von Belarus anbieten, um die eigene Haut zu retten. Der Kreml könnte auf diese mehr oder weniger formale Annexion eingehen in der Hoffnung, dass diese erneute Expansion - ähnlich wie bei der Krim vor sechs Jahren - die russische Bevölkerung mobilisiert, die von einer schwierigen Wirtschaftslage ebenso ermüdet ist wie von ihrem alternden Führer."

(APA)

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