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Internationale Pressestimmen zu den Protesten gegen Erdogan

"Die Proteste und die Reaktion der Machthabenden zeigen, dass die Türkei viele Gesichter hat."
"Die Proteste und die Reaktion der Machthabenden zeigen, dass die Türkei viele Gesichter hat." ©AP
Internationale Zeitungen kommentieren am Montag die Proteste gegen den türkischen Regierungschef Erdogan.

“Libération” (Paris):

“Die (Regierungspartei) AKP hat in den elf Jahren an der Macht ihren Schraubstock um die türkische Gesellschaft fester zugezogen. Sie hat die nichtreligiösen Errungenschaften der Kemalisten beseitigt, und die Rechtsstaatlichkeit und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. (Ministerpräsident) Erdogan will eine islamische Ordnung einrichten. Das erkennt man an der Vormacht des Ministeriums für Religionsangelegenheiten, der Wiedereinführung des Kopftuchs, oder des Alkoholverbots. Es ist noch zu früh, nach diesen Tagen der Rebellion der Zivilgesellschaft von einem türkischen Frühling zu sprechen, doch man sieht, dass die Gesellschaften im Nahen Osten nicht bereit sind, eine Zerstörung ihrer Freiräume durch einen islamischen Deckel zu akzeptieren.”

“Neue Zürcher Zeitung”:

“Lange hatte es so ausgesehen, als ob es Erdogan gelingen würde, im kommenden Jahr der erste vom Volk gewählte Präsident der Türkei zu werden. Doch könnte er, wie die Kritik an seiner festgefahrenen Syrien-Politik und die Bürgerproteste in Istanbul zeigen, seine Popularität überschätzt haben. Es scheint auch, dass er mit seinen Bemühungen scheitern wird, in der neuen Verfassung ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild zu verankern, das ganz offensichtlich auf seine eigenen politischen Ambitionen zugeschnitten wäre. Die Opposition will nicht Hand dazu bieten, dass das Grundgesetz zu einem Vehikel für den weiteren Ausbau der Macht Erdogans wird.”

“De Standaard” (Brüssel):

“Es wäre falsch, die arabischen Revolutionen mit den Unruhen in der Türkei gleichzusetzen. Während die Araber auf die Straße gingen, um ihre Diktatoren loszuwerden, kämpfen die Türken für den Erhalt der Demokratie. Gestärkt durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik in den letzten zehn Jahren, hatte Tayyip Erdogan probiert, wie weit er damit gehen kann, dem türkischen Volk seine islamistisch-traditionelle Lebensanschauung aufzudrängen. Dafür ist er nun vor allem von gut gebildeten Türken abgestraft worden. Innerhalb von zehn Jahren ist die türkische Wirtschaft um 300 Prozent gewachsen, und die meisten Türken haben Erdogans Schrullen im Namen voller Portemonnaies lange hingenommen. Aber nun scheinen sie trotz einer florierenden Wirtschaft den Kopf nicht mehr einziehen zu wollen.”

“La Croix” (Paris):

“Die türkische Regierung hat angesichts dieser Massenproteste zunächst durchgreifen lassen. Doch die übermäßige Brutalität der Polizei wurde auch innerhalb der Regierung missbilligt. Erdogan hat dann den Sicherheitskräften angeordnet, sich vom Taksim-Platz zurückzuziehen. Diese Kursänderung haben die Demonstranten wie einen Sieg gefeiert. Unterstützt wurden sie durch Präsident Abdullah Gül: “In einer Demokratie müssen Reaktionen ruhig und mit Vernunft ausgedrückt werden, und im Gegenzug müssen sich die Regierenden mehr Mühe geben, ein offenes Ohr für die verschiedenen Meinungen und Sorgen zu haben”, sagte er. Damit ist die Marschrichtung für Erdogan vorgegeben.”

“Independent” (London):

“Betrachtet man die positive Seite, so kann man die Proteste in der Türkei nicht wirklich mit den Protestbewegungen in Kairo und Tunis am Anfang des Arabischen Frühlings vergleichen. Die Türkei hat eine demokratisch gewählte Regierung, die wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen hat. Doch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zeigt zunehmend autoritäre Tendenzen, auch wenn er die Tür zur Versöhnung mit den Kurden geöffnet hat. Er unterdrückt die Medien, und die Beschränkung des Verkaufs von Alkohol hat Befürchtungen über eine schleichende Islamisierung aufkommen lassen. Wenn diese Proteste sich zu innenpolitischer Unruhe ausweiten, könnte dies die politische und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Türkei untergraben.”

“Expressen” (Stockholm):

“Während des Arabischen Frühlings hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Türkei als Beispiel dafür erhoben, wie ein modernes muslimisches Land regiert werden sollte. Nun ist er selbst gezwungen, sich mit gewalttätigen Protesten gegen seine Regierung auseinanderzusetzen. (.) Die Proteste wären nicht so angeschwollen, wenn die Unzufriedenheit mit Erdogans Regierung nicht so groß wäre. Auch unter den ehemaligen Anhängern des Ministerpräsidenten gibt es Bedenken wegen seines zunehmenden Machthungers. Die demokratischen Reformprozesse haben Schwung verloren. Aktivisten, Journalisten und Gewerkschaftsführer sitzen dank des Anti-Terror-Gesetzes immer noch im Gefängnis. Die Pressefreiheit ist eingeschränkt. (.) Die Ereignisse vom Wochenende zeigen deutlich, warum die EU bei ihrer Forderung nach demokratischen Reformen bleiben muss. Aber die Verhandlungsführer sollten auch das klare Signal geben, dass die Mitgliedschaft der Türkei in der Zukunft gewünscht ist. Alle wären Verlierer, wenn sich die Türkei dem Osten statt dem Westen zuwendet.”

“Kapital Daily” (Sofia):

“Das, was jetzt auf den türkischen Straßen geschieht, betrifft nicht mehr nur einen Park. Die übermäßige Gewaltanwendung, das Vertreiben von Protestierenden mit Pfeffergas und Wasserkanonen um fünf Uhr am Morgen sowie das fast volle Medienblackout erinnerten daran, was sich hinter der Fassade des beeindruckenden Wirtschaftswachstums in der Türkei verbirgt – eine immer autoritärer werdende Staatsgewalt und Führer, die keine Widerrede dulden. (…)
Die Proteste und die Reaktion der Machthabenden zeigen, dass die Türkei viele Gesichter hat. Die Vorwürfe des schleichenden Islamismus sind nicht grundlos. Man denke nur an die staatliche Unterstützung für die religiösen Schulen (.) oder an die immer größer werdende Begrenzung des Alkoholkonsums. Diejenigen, die gegen eine Islamisierung protestieren, dürften aber zufrieden sein, dass (Ministerpräsident Recep Tayyip) Erdogan den Kampf gegen die Armee gewonnen hatte.”

(APA)

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