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Intern. Pressestimmen zum Scheitern

Die Kommentatoren internationaler Tageszeitung befassen sich in den Samstag-Ausgaben ausführlich mit dem EU-Gipfel, der an der Finanzierungsfrage gescheitert ist.

„Liberation“ (Paris):

„Europa treibt ohne Ruder, ohne Strategie und ohne Ziel dahin. (Der britische Premier) Blair will die wirtschaftliche Liberalisierung und die Reform seines eigenen Sozialmodells durchsetzen, (der französische Präsident Jacques) Chirac will mit Industriepolitik seinen Wehrturm des französischen „Sozialmodells“ und der Agrarsubventionen verteidigen. Weder Blair noch Chirac können mit der Unterstützung der Mehrheit der Europäer rechnen. Nötig ist ein Modell, das Flexibilität der Wirtschaft mit Sozialschutz verbindet ebenso wie Regulierung mit der Öffnung zur Weltwirtschaft. Dieses Modell bedarf außerdem demokratischer Zustimmung. Bis dahin hat an diesem 18. Juni Europa sein Waterloo erlebt.“

„Basler Zeitung“ (Genf):

„Die Verfassung einfach verschieben, ohne klare Alternativen zu benennen, zeigt die Ratlosigkeit der Chefs. Sie wird zur Folge haben, dass die EU in den nächsten Jahren gelähmt ist und unklar bleibt, in welche Richtung sich die Union entwickelt. Es ist nicht schlimm, wenn dabei die eine oder andere überflüssige Richtlinie unter den Tisch fällt. Aber die Ängste, welche die Abstimmenden in Frankreich und Holland zu einem Nein veranlasst haben, müssen von den Regierungschefs ernst genommen werden. Sie erfordern ein entschlossenes Handeln.“

„Financial Times“ (London):

„Die führenden Politiker der EU haben sich eine Pause zum Nachdenken verordnet. Aber das darf keine Entschuldigung dafür sein, gar nicht über die Zukunft des 25 Nationen umfassenden Blocks und über die Sorgen und Ängste nachzudenken, die in der Ratifizierungskrise um die Verfassung zu Tage getreten sind. Das heißt, dass für die nächste Zeit Schluss sein muss mit dem Herumbasteln an Institutionen. (…) Stattdessen müssen sich die Politiker klar werden, wofür die Union gut sein soll und wie sie ihren 450 Millionen Bürgern zusätzlichen Nutzen bieten kann. Dabei müssen sie vor allem den sich abmühenden Volkswirtschaften Europas helfen, mit der Globalisierung fertig zu werden.“

„The Times“ (London):

„Die derzeitige Krise in der EU – und erstmals ist dieses Wort eher eine Untertreibung – stellt wohl endlich zurecht das Ende des Traums von einer stets weiter gehenden Vertiefung der Union dar, die letztlich zu einem föderalen Superstaat führen würde. Die Krise weist auf die alternative Zukunft eines verschlankten, weniger komplexen und dafür flexibleren Systems hin, das die derzeitigen Nachbarn der Union willkommen heißen würde. (…) Dass sich noch so viele Länder, von Kroatien und Mazedonien bis zur Türkei und zur Ukraine uns anschließen wollen, ist ein klarer Beweis dafür, dass das europäische Projekt nach wie vor seinen Wert hat, wenn auch nicht unbedingt in der monolithischen Form wie sie der enttäuschten Kerngruppe einmal vorschwebte. (…) Die richtige Reaktion (auf den Gipfel von Brüssel) ist nicht Verzweiflung, sondern die Neudefinition Europas als einer Union von Partnern, die ungehindert mit Waren und Dienstleistungen Handel treiben und die im Rahmen der Subsidiarität den einzelnen Ländern mehr Entscheidungen überlassen als bisher.“

„De Morgen“ (Brüssel):

„Das niederländische Nein zur europäischen Verfassung hat seine Auswirkung auf den EU-Gipfel gehabt. Selten war die niederländische Haltung zu Europa so unversöhnlich. In der Diskussion über die europäische Finanzplanung 2007 bis 2013 zeigten sich unsere nördlichen Nachbarn von ihrer härtesten Seite. Jedes Mal, wenn der luxemburgische EU-Vorsitz einen neuen Vorschlag lancierte, standen die Niederländer in der ersten Reihe, um ihn abzuschießen. Was ist das Problem? Die Niederländer wollen Geld. Viel Geld. Sie sind pro Kopf der Bevölkerung der größte Nettozahler der Europäischen Union. (…) Nachdem die niederländische Bevölkerung gesprochen hatte, stand die Regierung an der Wand. Wenn es ihr nicht gelingt, den niederländischen Beitrag herunterzuhandeln, dürften die Tage der Balkenende-Regierung gezählt sein.“

„La Libre Belgique“ (Brüssel):

„Die Staats- und Regierungschefs haben selten die Gelegenheit, mit anderen Europäern zu sprechen. Bei offiziellen Besuchen wohnen sie in Palästen. Aus Gründen der Sicherheit oder des Prestiges benutzen die meisten nie öffentliche Verkehrsmittel. (…) Dabei kann man nur hoffen, dass sie in den beiden kommenden Jahren, die sie sich als Zeit des Nachdenkens in Brüssel genehmigt haben, tatsächlich die Begegnung mit den europäischen Bürgern suchen. Sie werden Männer und Frauen treffen, die größtenteils natürlich Europäer sind, aber mit Sorgen, die sich direkt auf ihre unmittelbare Umgebung beziehen: die Ausbildung der Kinder, die Arbeit, die hohen Lebenshaltungskosten, die Sicherheit in den Städten, die Armut der öffentlichen Verkehrsmittel, die Staus. Europa greift auf seine Art zunehmend in diese Bereiche ein. Es könnte mehr tun. Aber die Politiker wissen nichts davon. Man muss es ihnen sagen.“

„Rzeczpospolita“ (Warschau):

„Einen Tag nach ihrem Bekenntnis, dass sie nicht wissen, was mit der Verfassung weiter zu tun ist, scheiterten die Staats- und Regierungschefs der EU an den gemeinsamen Finanzen. Obwohl es in einem Fall um eine Idee und im anderen um Milliarden ging, zeigte sich, dass das Problem das gleiche ist. Die alte Union will nicht für die Erweiterung zahlen. In den Verfassungsreferenden sagten die Franzosen und Niederländer „Nein“, um gegen die Pläne zur Aufnahme der Türkei und Ukraine zu protestieren. (…) Der Haushaltsstreit zwischen Großbritannien betrifft nicht die Regel des „Britenrabatts“ oder die Agrarausgaben. Es geht um den Erhalt der Finanzposition der reichen Union ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass wir jetzt 25 Staaten in der Union haben. (…) Tony Blair und Jacques Chirac sagen, dass der Haushalt die Ärmsten finanzieren soll. Geht es aber um die Rechnung für Milliarden Euro für polnische Autobahnen, verteidigen beide ihre alten Privilegien.“

„Gazeta Wyborcza“ (Warschau):

„Am Freitag kurz vor Mitternacht stand Europa auf dem Kopf. Die ärmsten Länder der Union wollten auf einen Teil des Geldes zum Nutzen der Reichen verzichten, um den gemeinsamen Haushalt zu retten. Die neuen Mitglieder zeigten den alten, dass man sich für das gemeinsame Wohl opfern kann. Schade nur, dass die „alte“ Union diese Geste nicht schätzte. Statt nach den Niederlagen der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden zu zeigen, dass Europa handelt, bestätigten die Führer der Union die Bürger leider in der Überzeugung, dass das Handeln aufgehört hat. Wenn also die Herren Blair, Chirac, Balkenende nach Hause zurückkehren, um sich zu rühmen, dass sie die Interessen ihrer Länder verteidigt haben, lasst uns nicht applaudieren. Sie haben das auf Kosten des gemeinsamen Europas getan. Und eine schwächere Union bedeutet auch ein schwächeres Großbritannien, Frankreich und Niederlande.“

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