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IHS-Chef Bonin: Mittelschicht ist kein einheitlicher Block

Für IHS-Chef Bonin ist die Mittelschicht kein einheitlicher Block.
Für IHS-Chef Bonin ist die Mittelschicht kein einheitlicher Block. ©APA/GEORG HOCHMUTH (Symbolbild)
In Österreich umfasst die Mittelschicht rund zwei Drittel der Bevölkerung, je nach Definition. Allerdings wäre es laut Holger Bonin, Chef des IHS, falsch, von einem einheitlichen Block auszugehen.

Vor allem werde nicht unterschieden zwischen Menschen ohne und mit Vermögen - häufig also mit Immobilienbesitz. Das mache aber einen riesigen Unterschied. Vermögende sind tendenziell obere Mittelschicht mit Perspektive nach oben, ohne Vermögen steigt die Angst vor dem Abstieg.

Die Mittelschicht in Österreich ist den vergangenen 20 Jahren nicht geschrumpft, sagt Bonin. In Deutschland zwar schon - aber "ohne dass jemand ärmer geworden ist". Vielmehr sei über neu zugewanderte Menschen, die im Niedriglohnsektor Fuß gefasst haben, die Unterschicht gewachsen und dadurch rein rechnerisch der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung gesunken. Dass Menschen aus der Mittelschicht abgestiegen sind, sei auch in Deutschland die Ausnahme geblieben. Dafür habe es einen nennenswerten Aufstieg aus der Mittel- in die Oberschicht gegeben - was rechnerisch ebenfalls zu einer Verkleinerung der Mittelschicht führte. Damit zeige sich auch, dass die Größe der Mittelschicht die Einkommensverteilung widerspiegelt.

Bonin: Mittelschicht in Österreich ist in den vergangenen 20 Jahren nicht geschrumpft

Auch wenn bisher in Deutschland wie in Österreich nur wenige aus der Mittelschicht abgestiegen sind, ist es schwieriger geworden, in die Mittelschicht aufzusteigen, sagte der seit Anfang Juli amtierende IHS-Chef im Gespräch mit der APA. Das habe viel mit dem technologischen Wandel der letzten 30 Jahre, praktisch seit Einführung des PC in die Arbeitswelt, zu tun. Deshalb sei heute ein deutlich höherer Bildungsstandard nötig, um dazuzugehören.

Diesen schafft aber ein Teil der Bevölkerung zumindest kurzfristig nicht. Einerseits, weil es in den vergangenen Jahrzehnten schon viel Bildungsaufstieg gegeben hat und manche den Sprung zu Matura oder Studium nicht schaffen. Andererseits hat es ein Teil der kürzlich zugewanderten Menschen aufgrund von Sprachproblemen, Bildungsrückständen und fehlendem Vermögen und Netzwerken besonders schwer, in die Mittelschicht aufzusteigen. Abgesehen davon gebe es auch Personen, etwa im Bau oder Tourismus, die über ihre Arbeit nicht den Aufstieg in die Mittelschicht hierzulande anstreben, sondern mit dem Geld in ihrem Herkunftsland eine Existenz aufbauen.

Hatte im Jahr 2000 in Österreich noch ein Viertel der Mittelschicht nur einen Pflichtschulabschluss, so sind es jetzt (2019) nur mehr 15 Prozent. Während der Anteil der Menschen mit mittlerer Bildung unverändert bei zwei Drittel liegt, sind nun doppelt so viele Menschen mit hoher Bildung Teil der Mittelschicht, zeigt eine Berechnung der Agenda-Austria-Ökonomen Dénes Kucsera und Hanno Lorenz sowie des Volkswirtschaftsprofessors Wolfgang Nagl (TH Deggendorf) in der deutschen Fachzeitschrift "Wirtschaftsdienst".

Man müsse Angst der Menschen bedenken

Auch wenn die ökonomischen Daten eine stabile Mittelschicht und nur geringe reale Abstiegsgefahr belegen, müsse man die Ängste der Menschen bedenken, sagt Bonin. Einfache Routinejobs, die ein Leben in der Mittelschicht absicherten - etwa ein Bankbeamter mit Matura oder Banklehre - seien praktisch verschwunden. Und wer mit dieser Ausbildung und Perspektive die Arbeit aufgenommen hat, müsste sich nun laufend weiterbilden, um dem Job zu genügen. Sollten man ihn verlieren, sei der Umstieg mangels vergleichbarer Jobs sehr schwierig. Auch die Versicherung, es gebe ja genug Arbeit zum Mindestlohn, verstärke die Angst eher, als dass sie zur Beruhigung beitrage, erinnert Bonin.

Die Anforderung, im Job immer komplexere Aufgaben erfüllen zu müssen, sei für viele eine Bedrohung. "Der Weiterbildungsbedarf, um nicht abzusteigen ist gestiegen - das sind psychologische Kosten", so Bonin. "Dass wir über eine Erosion der Mittelschicht diskutieren, hat auch damit zu tun, dass empfundene Risiken und Probleme größer sind" als früher, auch wenn sich das nicht in ökonomischen Daten spiegelt. Aber "auch wenn Menschen möglicherweise das Abstiegsrisiko überschätzen, es ist da".

Dazu trage auch die Zunahme von niedrig bezahlten Jobs bei. "Der untere Bereich mit einfachen Dienstleistungen verschwindet nicht durch die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes", denn "Menschen mit hohen Einkommen gehen beispielsweise häufiger essen" umreißt Bonin das Phänomen. Sie fragen damit Dienstleistungen mit niedrigen Löhnen nach, auch solche der Plattformwirtschaft.

Ökonomischer Druck und Abstiegsängste werden verstärkt

Der ökonomische Druck und allfällige Abstiegsängste werden für die heutige erwachsene Mittelschicht auch durch die Anforderung nach höherer Bildung ihrer Kinder verstärkt, gibt Bonin zu bedenken. Denn früher galt der Anspruch, dass die eigenen Kinder mit Lehre oder maximal Matura auf eigenen Beinen stehen. Nun sollen Eltern zusätzlich ein Studium finanzieren, damit die Kinder den eigenen Standard halten können. "Der Aufwand, ein Kind adäquat auszubilden, ist viel höher geworden". Ganz allgemein gesprochen gelte: "Es ist anstrengender geworden, Mittelschicht zu bleiben", sagt Bonin.

"Ansprüche" der Mittelschicht gibt es aber auch, was die eigene Lebensqualität betrifft. Das zeigt sich insbesondere beim Aufbau von Vermögen. Auch den Menschen in den 1960er oder 1970er-Jahren sei das Eigenheim nicht zugeflogen. "Die haben auf den Urlaub verzichtet und Überstunden gekloppt", so Bonin. Gerade wenn ein gewisser Lebensstandard vorhanden ist, besteht der Wunsch nach einem Urlaub im Jahr, das steht im Konflikt mit der Bereitschaft, Zeit in die Weiterbildung zu investieren. Und ganz grundsätzlich: Wer mehr hat, der hat auch mehr Angst, etwas zu verlieren.

Aus Bonins Sicht kann aber von der vermögenden Mittelschicht sehr wohl verlangt werden, mit ihren vorhandenen Mitteln ihren Wohlstand abzusichern. "Die Politik kann nicht für zwei Drittel der Bevölkerung Sozialpolitik machen", sagt er. Zielgruppe für Unterstützung müssten die Menschen unter dem Medianeinkommen bis zum unterem Rand der Mittelschicht sein. Auch jenen, die zu wenig haben und verdienen, um zur Mittelschicht zu gehören, sollte man den Aufstieg erleichtern.

Der zuletzt in Österreich viel zitierte "Häuslbauer", der also schon ein Häuschen besitzt, ist im Regelfall als Vertreter der oberen Mittelschicht damit für Bonin nicht mehr unbedingtes Ziel für Sozialpolitik - außer, wenn Menschen mit Immobilie aber geringem Einkommen im Zuge von Klimamaßnahmen hohe Sanierungs- oder Umbaukosten auferlegt werden. Das könne existenzbedrohend werden und müsse abgefedert werden.

Bonin: Kinderbetreuung als Mittel

Die Mittel, die die Politik einsetzen sollte, sind aus Bonins Sicht dabei klar. Es fange mit einer Kinderbetreuung an, die vor allem Müttern erlaubt, so viel Erwerbsarbeit nachzugehen, wie sie gerne möchten. Unterstützung bei der Bildung, insbesondere bei den Lebenshaltungskosten beim Studium, wäre hilfreich und "natürlich soll der Staat dafür sorgen, dass es günstigen Wohnraum gibt". Sollte das gesellschaftliche Ziel der Eigentumserwerb sein, dass könne man über die Senkung der Nebenkosten bei Immobilienkauf nachdenken. Ganz allgemein sei die Grenzbesteuerung, also Steuern und Abgaben auf zusätzlich verdientes Einkommen, in Österreich zu hoch. Aber auch wirtschaftliche Bildung (Financial Literacy) sollte gestärkt werden, damit Menschen lernen, wie sie sich ein Finanzvermögen aufbauen können. Aktive Arbeitsmarktpolitik, um Menschen die Angst vor dem Verlust von Job und damit gesellschaftlicher Position zu nehmen, steht auch auf der Empfehlungsliste Bonins. "Wir brauchen eine vorsorgende, Beschäftigungsrisiken reduzierende aktive Weiterbildungspolitik", sagt er.

APA ©APA

Mittelschicht: Etwa zwischen 60 und 200 Prozent des Medianeinkommens

Die Mittelschicht erfasst Haushalte mit mittleren Einkommen. Allerdings geht es nicht um das mittlere Drittel der Bevölkerung, sondern um zwei Drittel bis drei Viertel, die je nach Definition darunter fallen. Die Bandbreite ist groß, die Definitionen sind "Konventionen, zu denen es keinen Konsens gibt", sagt Wifo-Ökonom Stefan Angel. Grenzen werden "willkürlich" gezogen, nennt es IHS-Chef Holger Bonin. Unstrittig ist, dass die Mittelschicht keine homogene Gruppe ist.

Das Wifo nimmt in Österreich als unteren Rand die Grenze zur Armutsgefährdung, das sind 60 Prozent des Medianeinkommens und als obere Grenze das dreifache davon an. Für diese Grenze spreche, dass damit Langzeitvergleiche möglich werden, so Angel. Um nach OECD-Definition Mittelschicht zu sein, muss man mehr verdienen, nämlich 75 bis 200 Prozent des Medianeinkommens. AK-Ökonomin Judith Derndorfer rechnet hingegen mit einer Bandbreite von 75 bis maximal 150 Prozent und kommt daher auf eine kleinere Mittelschicht.

Alle stellen aber auf das Medianeinkommen ab (die Hälfte der Bevölkerung verdient mehr, die andere Hälfte weniger). Ausgangspunkt ist ein Ein-Personen-Haushalt, bei größeren Haushalten wird pro zusätzlicher Person ein gewichteter Euro-Betrag dazugerechnet. 2021 waren das für einen Ein-Personen-Haushalt 1.371 bis 4.113 Euro pro Monat. Eingerechnet wird jedes netto verfügbare Einkommen, also neben Lohn oder Gehalt auch alle Sozialleistungen oder Geldflüsse aus Vermögensveranlagungen. Für eine Familie mit zwei Kindern lagen die Grenzen zwischen 2.880 und 8.640. Laut Wifo kamen pro Erwachsenem 686 Euro pro Monat dazu, je Kind 411 Euro.

In der Mittelschicht sein sagt nichts darüber aus, was man sich leisten kann

In der Mittelschicht sein sagt allerdings nichts darüber aus, was man sich leisten kann, hebt Angel hervor. Der mögliche Konsum wird nicht erfasst, lediglich das relative Einkommen spiegelt sich wieder. "Die Mittelschicht könnte arm sein", sagt dazu Derndorfer. Das gelte insbesondere in Krisenzeiten - etwa in Griechenland während der Währungskrise, als das Medianeinkommen real stark fiel und der allgemeine Lebensstandard zurückging. Dennoch fühlten sich auch in dieser Situation die Menschen in der Mitte besser, denn "man vergleicht sich ja oft mit anderen Menschen". Daher mache das Konzept der Mittelschicht schon Sinn.

Die generell verwendeten Konzepte stellen nur auf Einkommen, nicht auf Vermögen ab. Aber "die, die Mieten und nicht besitzen, haben natürlich ein viel kleineres Resteinkommen", gibt Angel zu bedenken. Aber das sei "in der öffentlichen Diskussion nicht so stark verbreitet". Auch Derndorfer hebt hervor: "es ist ein großer Unterschied ob man in Eigentum oder Miete wohnt".

Wenn die Mittelschicht kleiner wird, heißt das, dass ein größerer Anteil der Haushalte in die untere oder obere Einkommensschicht abgewandert sind - das könne man zumindest lose als eine Polarisierung der Einkommensverteilung ansehen, so Angel.

Mittelschicht: Selbstständige sind unterrepräsentiert

In der Mittelschicht sind in Österreich selbstständige unterrepräsentiert, sagt Angel. Kleine Ein-Personen-Unternehmer sind tendenziell in der Unterschicht, Unternehmer mit größeren Firmen in der Oberschicht zu verorten. Auch ältere Arbeitnehmer über 50 sind in der Oberschicht überdurchschnittlich stark vertreten, in der Mittelschicht hingegen weniger stark vertreten.

Die Menschen neigen dazu, sich näher der Mitte zu sehen als sie laut statistischen Daten tatsächlich sind. So sagen laut Umfragen 25 Prozent, dass ihr Einkommen in der Mitte ist - wo aber rechnerisch nur 10 Prozent sein können. Hingegen ordnet sich fast niemand als Teil der einkommensstärksten 10 Prozent ein. Dass sich aber in Umfragen arme reicher und reiche ärmer darstellen, ist nicht nur in Österreich so. Selbst in den USA, wo Reich-Sein viel eher anerkannt ist, stufen sich selber nur wenige wohlhabend.

(APA/Red)

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