Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron wird 85
Nach Jahren auf der Flucht und in Verstecken in und um Berlin, nach der Nachricht von der brutalen Ermordung so vieler jüdischer Verwandter und Freunde bricht die damals 22-jährige junge Frau zusammen. Wir weinten tagelang, erzählt die Schriftstellerin und Journalistin heute bei einem ihrer zahlreichen Vorträge.
Sie und ihre Mutter verdankten ihr Überleben den sogenannten stillen Helden – den wenigen deutschen Nichtjuden, die den Verfolgten halfen. Die Mehrzahl der jüdischen Berliner aber war von den Nazis in die Vernichtungslager deportiert und getötet worden. Die Geretteten fragten sich nach Kriegsende, warum ausgerechnet sie überlebt hatten. Die Schuldgefühle verließen uns nie – ein Leben lang, sagt Deutschkron. Am Donnerstag (23. August) wird Deutschkron, die für ihr aufklärerisches Lebenswerk gerade den Carl-von-Ossietzky-Preis erhalten hat, 85 Jahre alt.
Seit Jahrzehnten erzählt Deutschkron als wache Mahnerin wider das Vergessen ihre Lebensgeschichte an deutschen Schulen. Bis zum Jahr 2001 pendelte die Autorin zwischen Tel Aviv und Berlin. Heute lebt sie wieder in ihrer deutschen Heimatstadt. Wenn Deutschkron erzählt, wird es im Saal immer mucksmäuschenstill.
Am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren, wuchs sie seit 1927 in Berlin auf. Als es nach der Machtübernahme der Nazis 1933 immer schwieriger für Juden wurde, Arbeit zu bekommen, fand Inge 1941 in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt mit gefälschten Papieren eine Anstellung. Weidt hasste die Nazis und tat alles, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Wir alle verehrten ihn und nannten ihn Papa, sagt Deutschkron.
Ende 1942 wurden die letzten Mitglieder ihrer Familie in die Konzentrationslager der Nazis deportiert, einzig Vater Martin Deutschkron hatte nach England auswandern können. Mutter und Tochter gelang die Ausreise nicht mehr, sie mussten untertauchen. 1943 kommt dann das Angebot der Arbeiterfamilie Gumz: Frau Deutschkron, Sie nehmen den Stern ab und kommen mit Inge zu uns. Wir verstecken Sie, habe Frau Gumz gesagt. Es ist der Beginn einer Odyssee von Versteck zu Versteck. Was waren diese Deutschen für Menschen, die unter Lebensgefahr Juden versteckten? Sie waren Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft mit einem starken Bewusstsein für Recht und Unrecht, erzählt Deutschkron.
Manche Berliner hätten den Mut gehabt, den mit dem Judenstern gebrandmarkten Mitbürgern auf der Straße als Zeichen der Solidarität zuzublinzeln oder ihnen gar heimlich Essensmarken oder Obst in die Manteltaschen gleiten zu lassen. Die Mehrheit aber blickte mit ausdruckslosen Augen auf uns. Heute – im ganzen Wissen um die Greueltaten der Deutschen – erzählt die mit dem typischen Berliner Witz ausgestattete Deutschkron scheinbar ohne Groll und Bitterkeit von ihrem Schicksal.
1946 holte Vater Deutschkron seine Frau und seine Tochter zu sich nach England. Inge studierte dort Fremdsprachen und arbeitete im Büro der Sozialistischen Internationale in London. 1954 reiste sie für ein Jahr nach Südostasien und kehrte 1955 nach Deutschland zurück. Sie arbeitete zunächst als freie Journalistin und wurde Ende der 50er Jahre als Deutschland-Korrespondentin für die israelische Zeitung Maariv in Bonn akkreditiert. 1972 zog sie nach Tel Aviv und arbeitete bis 1987 in der Maariv-Redaktion. Das Berliner Grips- Theater brachte 1989 die Inszenierung Ab heute heißt du Sara nach Deutschkrons Autobiografie auf die Bühne. Das bewegende Stück wird bis heute vor Schülern und Erwachsenen gezeigt.