Seinen politischen Einfluss hat Helmut Schmidt bis ins hohe Alter bewahrt. Zahlreiche deutsche Spitzenpolitiker – vor allem von der SPD – holten sich in den vergangenen Jahren Rat beim Altkanzler. In seinen letzten Lebensjahren fiel dem starken Raucher das Gehen und Hören allerdings zusehends schwerer. Zuletzt war Schmidt im September wegen eines Blutgerinnsels am Bein operiert worden.
Geistig und politisch aber blieb der fünfte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland auch mehr als 30 Jahre nach seinem Sturz als respektierter “Elder Statesman” präsent – oft mehr geachtet als geliebt. Nur wenige Politiker standen so sehr für die Geschichte der “alten” Bundesrepublik wie Schmidt, der am Dienstag im Alter von 96 Jahren starb.
Sein Wort hatte bis zuletzt Gewicht. Er stand so über den Dingen, dass er auf jedem Podium der Republik seine geliebten Mentholzigaretten rauchen durfte. Und bis zuletzt machte Helmut Schmidt aus seiner Unzufriedenheit über die heutige Politik keinen Hehl. “Es zeichnet politische Führer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer aus, dass sie nicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristig Notwendige im Blick haben”, schrieb er in seinem letzten Buch “Was ich noch sagen wollte”. “Der Trend, nur noch in Legislaturperioden zu denken, hat seither erheblich zugenommen.”
Mit ihm geht eine der prägenden Figuren der Bundesrepublik, die die Lehren aus der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in politisches Handeln umzusetzen versuchte. Er wurde ein Motor der europäischen Einigung.
Von Schmidts politischer Laufbahn dürften vor allem zwei Bilder im Gedächtnis der Republik bleiben: Der junge, agile Hamburger Innensenator, der in der Sturmflut-Katastrophe vom März 1962 seinen Ruf als Krisenmanager erwarb. Und der würdevolle Staatsmann, der am 1. Oktober 1982 Helmut Kohl gratuliert, der ihn soeben per Misstrauensvotum als Kanzler gestürzt hatte.
Dazwischen lagen zwei Jahrzehnte, in denen der gebürtige Hamburger mit dem scharfen Scheitel und der scharfen Rede die bundesdeutsche Politik prägte. In seine Amtszeit als Bundeskanzler zwischen 1974 bis 1982 fällt der “deutsche Herbst” mit der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) 1977 und die Entführung der Lufthansa-Maschine “Landshut”, die mit der spektakulären Geiselbefreiung auf dem Flughafen in Mogadischu durch die Spezialeinheit GSG 9 endete. Das Ende seiner Kanzlerschaft war geprägt von heftigem Streit in der sozial-liberalen Koalition über den wirtschaftspolitischen Kurs sowie die Diskussion über den NATO-Nachrüstungsbeschluss für Mittelstreckenraketen, in der Schmidt zusehends an Rückhalt in der eigenen Partei verlor.
Wegen seiner Kenntnis globaler wirtschaftspolitischer Zusammenhänge wurde Schmidt in den Medien als “Weltökonom” bezeichnet. Sein Spitzname “Schmidt-Schnauze”, den er bei politischen Gegnern hatte, geht auf den Anfang seiner Karriere im Bundestag als Militärexperte der SPD zurück, wo er sich heftige Wortgefechte mit dem damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß lieferte.
1969 wurde Schmidt zunächst selbst Verteidigungsminister im ersten SPD/FDP-Kabinett von Kanzler Willy Brandt. Als Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller im Zusammenhang mit der Währungskrise im Juli 1972 zurücktrat, wurde Schmidt vorübergehend dessen Nachfolger und übernahm das Finanzressort nach der Bundestagswahl im gleichen Jahr mit erweiterten Kompetenzen.
Die Affäre um den DDR-Agenten Günter Guillaume im Bundeskanzleramt führte im Mai 1974 zum Rücktritt Brandts. Im Anschluss an die Wahl von Walter Scheel zum Bundespräsidenten wurde Schmidt am 16. Mai 1974 zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt.
Außenpolitisch suchte Schmidt, Brandts Kurs der Annäherung zwischen Ost und West fortzusetzen, vermied es dabei aber, allzu große Hoffnungen auf eine baldige Entspannung zu wecken. Im westlichen Ausland wurde Schmidt vor allem wegen seiner Wirtschaftskompetenz geschätzt. Oft wurde von ihm mit Blick auf seine guten Kontakte zu dem damaligen französischen Präsidenten Valerie Giscard d’Estaing die Lösung schwieriger Probleme zugetraut. Mit Giscard begründete er die sogenannten Weltwirtschaftsgipfel. Auf Schmidts Initiative geht auch das Europäische Währungssystem (EWS) zurück, das als Vorläufer der Währungsunion gilt.
Mit der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Kohl war Schmidts aktive politische Laufbahn zu Ende. Als Ex-Kanzler blieb er jedoch in der Öffentlichkeit präsent. Sein Nachfolger bekam “Schmidt-Schnauze” zu spüren, der seit 1983 als Herausgeber der Wochenzeitung “Die Zeit” die Weltpolitik und die Weltwirtschaft kommentierte. Schmidt lebte in Hamburg lange mit seiner Ehefrau Hannelore (Loki) zusammen, mit der er bis zu deren Tod 68 Jahre verheiratet war. Die Pädagogin und Botanikerin starb 2010. Zwei Jahre später wurde bekannt, dass Schmidt eine neue Beziehung hatte.
Der zeitliche Abstand ließ auch in der SPD den Respekt für ihren Altkanzler wachsen, dessen Biografie bis in eine Zeit als Flakhelfer im 2. Weltkrieg reichte. Die Wertschätzung für den Altkanzler zeigte sich 1998, als Schmidt Gerhard Schröder beim Leipziger Parteitag seinen Segen gab und mit Wehmut und Respekt gefeiert wurde. Schröder wie Schmidt, ihren beiden letzten Kanzlern, verdankt die SPD den ungeliebten Regierungspragmatismus. Dieser Grundsatz ist bis heute aktuell und wird auch von Sigmar Gabriel als Vize unter Kanzlerin Angela Merkel befolgt. Im Dezember 2011 lag ihm seine SPD zuletzt zu Füßen: In einer mit “Helmut, Helmut”-Rufen bejubelten einstündigen Rede auf dem SPD-Bundesparteitag warnte Schmidt vor einem Rückfall Europas in nationalstaatliche Rivalitäten.
Wichtige Stationen im Leben von Helmut Schmidt
Helmut Schmidt entwickelte sich schon früh zu einem politischen Allround-Talent. Die wichtigsten Lebensstationen des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik im Überblick:
1918: Am 23. Dezember wird Helmut Heinrich Schmidt als Sohn eines Volksschullehrers in Hamburg-Barmbek geboren.

1939-1945: Soldat im Zweiten Weltkrieg
1942: Heirat mit seiner früheren Klassenkameradin Loki Glaser

1946: Eintritt in die SPD
1962: Als Innensenator in Hamburg macht er sich einen Namen bei der Bewältigung der Flutkatastrophe


1967-1969: Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
1969-1972: Verteidigungsminister im ersten Kabinett von Willy Brandt

1972: Finanzminister im zweiten Kabinett Brandt
1974: Wahl zum Bundeskanzler (16. Mai) nach Rücktritt Brandts

1977: Die RAF nimmt Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer als Geisel, im Oktober wird die Lufthansa-Maschine “Landshut” entführt. Schmidt gibt den Forderungen der Terroristen nicht nach. Schleyer wird ermordet, die Geiseln der “Landshut” in Mogadischu befreit.



1982: Am 1. Oktober wird Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt. Neuer Kanzler wird Helmut Kohl (CDU).

1983: Schmidt wird Mitherausgeber der Wochenzeitung “Die Zeit”

2010: Am 21. Oktober stirbt Loki Schmidt mit 91 Jahren.
2013 April: Die Familie des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer macht ihren Frieden mit Schmidt. 36 Jahre nach Schleyers Tod verleiht sie Schmidt den Hanns-Martin-Schleyer-Preis
2013: Helmut Schmidt unterstützt vergeblich den ebenfalls aus Hamburg stammenden SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück

2015: Schmidt veröffentlicht das sehr persönliche Buch “Was ich noch sagen wollte” über Lebenserinnerungen, Wegbegleiter und Vorbilder.
10. November 2015: Helmut Schmidt stirbt im Alter von 96 Jahren in seiner Heimatstadt Hamburg.

Scharfzüngige Kritik an Politik und Gesellschaft – Helmut Schmidt in Zitaten
Sein Redetalent brachte Helmut Schmidt von politischen Gegnern einst den Namen “Schmidt-Schnauze” ein. Der SPD-Abgeordnete, Minister, Kanzler und Elder Statesman in Zitaten:
“Ich war als Schüler relativ faul. Was mich nicht interessiert hat, habe ich nur flüchtig gemacht. (…) Meine Frau und ich waren ja in derselben Klasse; wir hatten eine ähnliche Handschrift und es ist vorgekommen, dass Loki meine Hausaufgaben in mein Heft geschrieben hat, zum Beispiel in Mathematik, da war sie besser.” (In der Wochenzeitung “Die Zeit”, 2008)
“Für mich war sie wirklich die unverzichtbare Stimme des Volkes. Ich bin immer noch so stolz auf sie.” (Nach dem Tod seiner Frau Loki im Oktober 2010)
“Ich konnte mich in jeder Situation auf sie verlassen. Ich zögere nicht zu sagen: Loki war der Mensch in meinem Leben, der mir am wichtigsten war.” (Schmidt im Buch “Was ich noch sagen wollte” über Loki)
“Für Loki und mich war klar: Im Falle einer Entführung lassen wir uns nicht austauschen.” (Schmidt zur Gefahr, von RAF-Terroristen entführt zu werden – eine entsprechende Anweisung ließ er dem Kanzleramt übermitteln)
“Im Juni 1944 brachte Loki einen Sohn zur Welt, der nach acht Monaten an Gehirnhautentzündung starb. Der Feldpostbrief, in dem Loki mir vom Tod des Kindes berichtete, war verloren gegangen. Erst aus einem späteren Brief zog ich die Schlussfolgerung, dass der Junge gestorben sein musste. Es war ein schrecklicher Moment.” (Schmidt zum Tod des Sohnes – er war zu dem Zeitpunkt an der Front)
“In unserer 68 Jahre währenden Ehe hat es ein einziges Mal etwas gegeben, was ein Außenstehender eine Krise nennen könnte. Ich hatte eine Beziehung zu einer anderen Frau.” (Schmidt 2015 zu seiner Affäre Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre – er musste Loki von einer Trennung abbringen)
“Die Heutigen wissen alles viel besser.” (Schmidt zu Belehrungen wegen der Rolle als Soldat in der NS-Zeit)
“Der liebe Gott hat mich als Arbeitstier geboren.” (Im November 2010 in der “Bild”-Zeitung)
“Willen braucht man. Und Zigaretten.” (In der ARD auf die Frage von Sandra Maischberger, wie er sein Arbeitspensum schafft, 2007)
“Wohl aber ist mir sehr klar bewusst, dass ich – trotz aller redlichen Bemühungen – am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig bin. Denn theoretisch hätten wir auf das Austauschangebot der RAF eingehen können.” (Bei der Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises an Schmidt im April 2013 in Stuttgart)
“Zum einen der Tod meiner Frau. Zum anderen – viele Jahrzehnte davor – mein Besuch in Auschwitz. Und drittens die monatelange Kette von mörderischen Ereignissen, die mit Hanns Martin Schleyers Namen verbunden bleibt.” (Schmidt im April 2013 über seine erschütterndsten Erlebnisse)
“Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.” (Im “Spiegel” über Willy Brandts Visionen im Bundestagswahlkampf, 1980)
“Politiker und Journalisten. Das sind beides Kategorien von Menschen, denen gegenüber größte Vorsicht geboten ist: Denn beide reichen vom Beinahe-Staatsmann zu Beinahe-Verbrechern. Und der Durchschnitt bleibt Durchschnitt.” (In einer Rede vor Studenten in Freiburg, 1995)
“Mir scheint, dass das deutsche Volk – zugespitzt – fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen kann, als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.” (In der “Süddeutschen Zeitung”, 1972)
“Sich vorzustellen, dass Deutschland in der Weltpolitik eine Rolle zu spielen habe, finde ich ziemlich abwegig.” (Zum Streben nach einem Ständigen Sitz für Deutschland im UN-Sicherheitsrat, 2004)
“Die heutige politische Klasse in Deutschland ist gekennzeichnet durch ein Übermaß an Karrierestreben und Wichtigtuerei und durch ein Übermaß an Geilheit, in Talkshows aufzutreten.” (In Berlin, 1994)
“Der Köhler, wenn er Bundespräsident wird, hat allein mehr ökonomischen Verstand als die ganze deutsche politische Klasse zusammen.” (In der “Zeit” über Horst Köhler, 2004)
“Ich möchte Kohl zugute halten, dass er im Grunde ein anständiger Politiker gewesen ist.” (Schmidt 2015 zu Helmut Kohls Leistungen bei der Deutschen Einheit – er warnte davor, die CDU-Spendenaffäre überzubewerten)
“Das gegenwärtig zur Verfügung stehende Personal ist nicht sonderlich geeignet, gemeinsam zu regieren, weil beide Seiten nicht ausreichend wissen, was sie eigentlich wollen.” (In der “Zeit” zur Frage einer großen Koalition aus Union und SPD, 2005)
“Vor zehn Jahren wäre keiner auf die Idee gekommen, dem Vorstandsvorsitzenden von VW 15 Millionen Euro Gehalt zu zahlen.” (Schmidt 2015 zur Steigerung der Gehälter für Unternehmenschefs)
“Sie haben einem uralten Mann zugehört. Sie müssen ihn nicht unbedingt ernst nehmen.” (Schmidt in Brandenburg bei seinem einzigen großen Auftritt im SPD-Bundestagswahlkampf 2013)
“Ich mache weiter, bis der liebe Gott sagt: Jetzt ist Schluss!” (In einer Rede zu seinem 79. Geburtstag, 1997)
(APA/dpa/red)