Die Konservativen unter der Führung von David Cameron werden demnach zwar stärkste Partei, verfehlen aber mit prognostizierten 305 Sitzen knapp die absolute Mehrheit von 326 Sitzen für die Regierungsbildung. Die regierende Labour-Partei kann mit 255 Sitzen rechnen, der niedrigsten Zahl seit 1987. Deutlich schwächer als vor der Wahl erwartet schneiden demnach die Liberaldemokraten unter Nick Clegg ab, die nur auf 61 Sitze hoffen konnten. Andere Parteien und Unabhängige erreichen wahrscheinlich 29 Mandate.
Die unklaren Mehrheitsverhältnisse machen laut BBC zwei Szenarien möglich: Premierminister Gordon Brown könnte zurücktreten, weil das Ergebnis ihm signalisiert, dass er das Mandat zu regieren verloren hat. Oder er könnte versuchen, die Unterstützung kleinerer Parteien bis hin zur Bildung einer Koalition zu gewinnen, um weiter zu regieren.
Der britische Premierminister tendiert offenbar zu der zweiten Variante. Kreisen in der bisher regierenden Labour-Partei zufolge wolle Brown mit einer Koalitionsregierung an der Macht bleiben. Der Chef der Labour-Partei begründe dies damit, dass eine Koalition in unsicheren wirtschaftlichen Zeiten besser sei als eine Minderheitsregierung unter den konservativen Tories.
Brown, der seinen persönlichen schottischen Wahlkreis Kirkcaldy and Cowdenbeath mit einem Stimmenzuwachs gewinnen konnte, verwies in einer ersten Reaktion auf die Erfolge seiner Regierungsarbeit. Zur politischen Zukunft Großbritanniens sagte er: “Das Ergebnis der Wahl in diesem Land ist noch nicht bekannt, aber meine Pflicht gegenüber diesem Land wird es nach der Wahl sein, meinen Teil dazu beizutragen, dass Großbritannien eine starke, stabile und richtungsweisende Regierung hat, die in der Lage ist, es durch eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu führen.”
Wirtschaftsminister Peter Mandelson sagte in einer ersten Stellungnahme für Labour, es hätten sich “natürlich Wähler von Labour abgewandt, aber sie sind nicht in die Arme von David Camerons Tories geflogen”. Sollten sie keine Mehrheit haben, seien die Vorgaben der Verfassung klar: “Bei einem ‘hung parliament’ hat formell nicht jene Partei mit den meisten Stimmen den ersten Versuch, sondern die amtierende Regierung”. Er habe kein Problem damit, in Verhandlungen mit anderen Parteien “das Land mit einer starken und stabilen Regierung zu versorgen”. Dazu gehörten auch Gespräche mit den Liberaldemokraten, die der Wählernachfrage zufolge schlechter als erwartet abschneiden. “Es sieht so aus, als ob Großbritannien auf ein äußerst spannendes Ergebnis zusteuert.”
Auch die Brüder David Miliband (Außenminister) und Ed Miliband (Energie- und Klimaschutzminister) stellten sich demonstrativ hinter den Premierminister. Labour habe zwar Stimmen eingebüßt, aber nicht im prognostizierten Ausmaß, Brown sei parteiintern keineswegs geschwächt und solle die Regierungsbildung versuchen, erklärten beide fast übereinstimmend im TV-Sender BBC. Brown habe die Fähigkeit, eine stabile Regierung zu bilden.
Für die bisher oppositionellen Tories ist trotzdem klar, dass Brown als Regierungschef gehen muss. Eric Pickles von den Konservativen erklärte, es sei undenkbar, dass Brown darangehen könnte, eine Regierung zu bilden. Er sei gescheitert. Und die Abgeordnete Theresa May sagte, die Labour-Partei habe das Recht verloren zu regieren.
Prominentes Thema in der nächtlichen Berichterstattung über die Wahlen waren auch Probleme mit der Stimmabgabe in zahlreichen Wahlbezirken. So berichteten Wähler, sie seien abgewiesen worden, als zur Schließung der Wahllokale um 22.00 Uhr (Ortszeit, 23.00 MESZ) noch immer lange Schlangen vor den Wahllokalen waren. Probleme gab es demnach unter anderem in Milton Keynes, Liverpool, Newcastle, Birmingham, Newcastle und Sheffield, wo der Führer der Liberaldemokraten, Nick Clegg, einen Sitz hat. In mehreren Wahllokalen kam es zu Verzögerungen, weil nicht genügend Stimmzettel vorhanden waren. Die Zuständigen hatten offenbar mit einer geringeren Wahlbeteiligung gerechnet. Mindestens ein Wahllokal wurde wegen der Panne eine Stunde lang geschlossen. Mehrfach musste die Polizei einschreiten, um wütende Bürger zu beruhigen.
Die Wahlkommission erklärte in der Nacht zu Freitag, sie sei “ernsthaft besorgt” über die Vorwürfe, und kündigte eine genaue Prüfung der Beschwerden an. Die Vorsitzende der Wahlkommission, Jenny Watson, sagte, das derzeitige Wahlsystem stehe “kurz vor dem Zusammenbruch” und müsse reformiert werden. Premierminister Brown ließ durch einen Sprecher erklären, er sei “sehr besorgt” über die Berichte und unterstütze eine genaue Untersuchung. Auch ein Sprecher der Konservativen forderte eine Untersuchung.
Bei der letzten Wahl am 5. Mai 2005 kam Labour mit 35,3 Prozent auf 356 Mandate. Die Tories – offiziell die Conservative and Unionist Party – folgten mit 32,3 Prozent und 198 Sitzen. Auf die Liberal Democrats entfielen bei 22,1 Prozent der Stimmen 62 Mandate. Weitere im Unterhaus vertretene Parteien sind die Schottischen Nationalisten (6 Mandate), die nordirische Sinn Fein (5), die walisische Plaid Cymru (3) sowie die nordirischen Parteien SDLP (3) und Ulster Unionists (1).