Graz gedenkt der Opfer der Amoktat: Trauerfeier am Hauptplatz

Rund eine Stunde lang hielt man am Grazer Hauptplatz am frühen Sonntagabend inne und gedachte der Opfer des Amoklaufes vom Dienstag, als im BORG Dreierschützengasse neun SchülerInnen und eine Lehrerin getötet und elf verletzt wurden. Die Politik hielt sich mit ihren Reden kurz, die Frage nach dem Warum stand im Fokus. Für Applaus der rund 4.500 Teilnehmer sorgte die Ansprache des Schulsprechers, der die versammelte Spitzenpolitik bat: "Bitte, liebe Regierung, ändern Sie was."
Die Schüler und Lehrer, die Stadt Graz, die Steiermark und die Republik gedachten am Sonntag um 18.00 Uhr am Grazer Hauptplatz der Opfer der Amoktat am BORG Dreierschützengasse. Die gesamte Landesregierung, die Stadtregierung, Alt-Landeshauptfrau Waltraud Klasnic (ÖVP) und Diözesanbischof Wilhelm Krautwaschl hatten sich eingefunden, neben rund 130 Schülern und Angehörigen. Staatssekretär Alexander Pröll (ÖVP) sprach in Vertretung von Bundeskanzler Christian Stocker, nach Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der eine Videobotschaft schickte, in der er Schülern und Eltern Mut und Trost zusprach.
Laut Stadt Graz und dem Bürgermeisteramt sind in der etwa einstündigen Veranstaltung Ansprachen und Botschaften im Ausmaß von höchstens fünf Minuten von Schülern, Elternvertretern und Musikstücke geplant. Letztere werden von Schülern selbst, vom HIB art chor sowie der Kunstuni Graz (KUG) vorgetragen. Die Politik will sich an dem Trauertag zurückhalten: So wird Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine Videobotschaft senden, die zum Auftakt gezeigt wird. Der Präsident hatte bereits unmittelbar nach der Amoktat mit Schülerinnen und Schülern, Eltern und Einsatzkräften gesprochen. Der Rede von Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) soll ein Statement des Schulsprechers folgen.
Amoklauf in Graz: Reden-Splitting der Politik, Betroffene im Mittelpunkt
Landeshauptmann Mario Kunasek (FPÖ) und Bürgermeisterin Elke Kahr (KPÖ) sind übereingekommen, ihre Redezeiten zu teilen. Kahr wird am Sonntagabend am Hauptplatz nach Bundespräsident Van der Bellen, Bundeskanzler Stocker und dem Schulsprecher ihre Worte an die Trauernden richten. Kunasek - der am Sonntag anwesend sein wird - wird dafür am Dienstag im Grazer Dom bei der interreligiösen Gedenkfeier im Dom reden, wobei Kahr dafür an diesem Tag "lediglich" unter den Trauernden sein wird. Nach den Ansprachen der Politik gibt es Ansprachen des Elternvereins und einen "Interreligiösen Impuls" von Religionsvertretern. An Musikstücken sind unter anderem "We are the world" und als Abschluss "Imagine" geplant.
Die Trauerfeier für mehrere tausend Menschen hat Sperren des Öffi-Verkehrs in der Innenstadt nach sich gezogen. Für die Trams durch die Herrengasse fuhren bis 20.00 Uhr Ersatzbusse. Der Individualverkehr war an manchen Stellen eingeschränkt. Am Hauptplatz und in den umliegenden Straßen und Gassen wurden WC-Häuschen aufgestellt. Das Rote Kreuz richtete Anlaufstellen ein. Polizei und Ordnungswache waren mit großen Kopfstärken präsent. Für diejenigen, die am Hauptplatz keinen Platz fanden - der ganze Platz war von den sonst üblichen Würstlständen u. ä. geräumt worden - hatte man Videowalls aufgestellt, um die Zeremonie auf der Bühne vor dem Rathaus verfolgen zu können.
Pröll sagte, er finde nicht die richtigen Worte. "Wie tröstet man Eltern, die ihr Kind verloren haben? Vielleicht geht es nicht um die richtigen Worte, sondern ums das Hiersein und das Zusammensein." Was man heute tun könne, sei zuhören und mitfühlen und zu sagen: "Ich bin da", so Pröll, der zusammen mit SPÖ-Staatssekretär Jörg Leichtfried die Bundesregierung vertrat.
Ebenfalls auf der Videowand gab es ein Statement des Schulsprechers Ennio Resnik: "Liebe Welt! Das BORG hat sich in den letzten Tagen in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Ich will, dass man mir in die Augen schaut und begreift, was geschehen ist. Ich will, dass die Welt und Politik aufwachen." Er wolle - und es sei egal, ob Buddhist oder Muslim oder Christ oder Jude, ob divers oder anders - dass jeder sehe, dass "Ihr das Licht der Welt seid", wandte sich Resnik an seine Schulkollegen. Er wolle auch Worte finden, aber das könne er nicht. Er könne nicht beschreiben, wie unendlich leid es ihm tue. Aber er wolle auch danken: "Sicherheitskräften, Lehrern, Betreuern, Eltern - danke, wie Ihr gehandelt habt, Eure Leistung war, ist und bleibt übermenschlich."
"Er hat versagt. Wir haben gewonnen, weil wir lieben können."
Dann sprach Resnik indirekt den Täter an: "Er wollte, dass wir Angst haben, hassen, auseinandergehen. Aber er hat versagt, weil wir lieben können und stärker sind. Wir haben schon gewonnen. Haltet zusammen. Ihr seid das Licht der Welt." Und plötzlich begannen Menschen zu klatschen, erst vom Ende des Platzes, dann über den ganzen Hauptplatz. Und als sich alle Schüler auf der Bühne versammelten und an den Händen hielten, unter den Klängen des Hoffnungsliedes "We are the world", gesungen vom HIB art chor, wandte sich Resnik persönlich an die Politik: "Bitte, liebe Regierung, ändern Sie was. Danke."
Bürgermeisterin Elke Kahr (KPÖ) begann ihre Rede mit "128 Stunden". So viele seien vergangen seit der unvorstellbaren Gewalttat, die zehn Leben auslöschte. Viele Menschen hätten nach Erklärungen gesucht. "Es gibt keine. Nur einen Weg: den des Zusammenhalts, des Mitgefühls und der Mitmenschlichkeit und der Besonnenheit. Das zeichnet unsere Stadt und ihre Menschen in dieser Zeit aus. Danke allen, die ihr Bestes für andere gegeben haben." Viele hätten sich schon abgefunden, mit Hass und Gewalt als Teil des Lebens, viele schauten weg. Von da weg sei es nur ein kleiner Schritt zur Eskalation. Aber: "Nach vorne schauen heißt: etwas verändern, damit unsere Kinder und Jugendlichen sich sicher und wohl fühlen können", so die Bürgermeisterin. Auch Kahr erhielt an dieser Stelle Applaus.
"Eine Schule, in der niemand übersehen wird"
Eltern-Vertreter Mirza Candic dankte unter anderem den Einsatzkräften und den Lehrern, "die unsere Kinder schützten und sie begleiteten. Und danke vor allem an unsere Kinder, die Mut und Stärke gezeigt haben, einander geholfen und sich geschützt haben. Die Stunden des Wartens auf ein Lebenszeichen werden wir niemals vergessen. Wir wollen auch nicht zurück zur alten Normalität, wir fordern Raum, um alles aufzuarbeiten, wir wollen eine Schule, in der niemand übersehen wird", so Candic unter Applaus der laut Polizeizählung rund 4.500 bis 5.000 Teilnehmer.
Nach Ansprachen in Form eines "Interreligiösen Impulses" der Vertreter der Religionsgemeinschaften - Inga Margereta Brenner von der Buddhistischen Religionsgemeinschaft, Superintendent Wolfgang Rehner von der Evangelischen Kirche, der katholische Dom- und Stadtpfarrer Ewald Pristavec sowie Mehmet Celebi von der Islamischen Religionsgemeinde - neigte sich die Trauerfeier dem Ende zu, bei 30 Grad Celsius, aber einem gnädigen leichten Brise. Der Sukkus: "Gewalt, in welcher Form auch immer, darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben." Und: "Wählen wir das Leben, wählen wir das Miteinander." Man habe eine gemeinsame Verantwortung für eine Gesellschaft, in der Kinder ohne Angst leben dürfen. Vielleicht liege die Antwort nicht in großen Worten, sondern in kleinen Gesten.
Einsatzkräfte riegelten Zugänge zum Hauptplatz ab
Als Abschluss intonierte der HIB art chor John Lennons "Imagine". Laut Polizei kam es zu keinen Zwischenfällen. Gut vorgesorgt war jedenfalls. Die Einsatzkräfte hatten jeden Zugang zum Hauptplatz gestaffelt mit Öffi-Bussen, Streifenwagen und sogar einem Schwer-Lkw mit Baustoffen blockiert.
Gedacht wurde am Sonntag und wird noch beim interkonfessionellen Gottesdienst am Dienstag im Grazer Dom der zehn getöteten und elf verletzten Menschen, auf die ein Ex-Schüler in der Schule in der Dreierschützengasse am Dienstagvormittag geschossen hatte, bevor er Suizid verübte. Vor fast genau zehn Jahren, am 28. Juni 2015, hatte ebenfalls am Hauptplatz eine von über 12.000 Menschen besuchte Trauerfeier für die drei Menschen stattgefunden, die während einer Amokfahrt eines Mannes durch die Innenstadt acht Tage zuvor getötet worden waren. Damals hatte ÖVP-Bürgermeister Siegfried Nagl eine berührende, klarsichtige Rede gehalten - Kahrs Amtsvorgänger wäre selbst damals fast ein Opfer des Amokfahrers geworden.
Weitere verletzte Person auf Normalstation verlegt
In Hinblick auf die Verletzten gab es am Sonntag gute Nachrichten: Wie eine Sprecherin der Steiermärkischen Krankenanstaltengesellschaft (KAGes) der APA sagte, sind von den elf Verletzten der Amoktat alle medizinisch stabil. Im LKH-Uniklinikum Graz sind alle sechs Patienten auf der Normalstation. Im UKH Graz sind von den fünf Patienten noch zwei auf der Intensivstation. Eine verletzte Person konnte auf die Normalstation verlegt werden.
Bei der seit Mittwoch laufenden Online-Aktion der Initiative #aufstehn für ein sofortiges Schusswaffenverbot für Privatpersonen haben mittlerweile 88.100 Menschen (Stand später Sonntagvormittag) unterzeichnet. Die Petition richtet sich an Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) und die Bundesregierung.
Headset des Attentäters war Gehörschutz
Seitens der steirischen Polizei hieß es am Sonntag auf APA-Anfrage, dass mittlerweile gesichert sei, dass es sich beim Headset des Attentäters um einen Gehörschutz wie auf einem Schießstand handle. Dieser Gehörschutz sei nicht sende- und empfangsfähig gewesen, sagte ein Polizeisprecher. Auf der Upload-Plattform des Innenministeriums, auf der Videos und Fotos für die Polizei hochgeladen werden können, waren bis Sonntag später Vormittag noch Hinweise dazugekommen: Am Samstagvormittag waren es 790 Dateien, davon 378 Videos, nunmehr werteten die Ermittler 846 Dateien und 379 Videos aus, sagte Polizeisprecher Sabri Yorgun zur APA. Die Plattform bleibt weiter online und Zeugen können Dateien weiterhin unter https://upload.bmi.gv.at/ hochladen. Man sei sehr dankbar für die immer noch einlaufenden Hinweise und gehe jedem nach.
Amoklauf in Graz: Mehr hochgeladene Hinweise, Verletzte stabil
Die Polizei verfolgte am Samstag weiterhin Hinweise zur Amoktat von Graz am Dienstag, die über die Plattform zum Upload von elektronischen Dateien einlangten. Über die Ermittlungen komme man auch zu weiteren Zeugen, so ein Polizeisprecher zur APA. Der Zustand der elf Verletzten in zwei Grazer Spitälern sei laut KAGes unverändert stabil. Die Landtagsopposition kritisierte am Samstag Kürzungen bei u. a. Gewaltprävention, die Landeshauptmannpartei FPÖ wies dies zurück.
Die Ermittlerinnen und Ermittler konzentrierten sich auch am Wochenende auf die Befragung der über 100 Zeugen. Außerdem werden die Daten aus der Hausdurchsuchung in der Wohnung des Täters ausgewertet. Das gelte auch für jene von der Plattform des Innenministeriums, auf der Videos und Fotos für die Polizei hochgeladen werden können. Freitagvormittag waren es 683 Dateien, davon 371 Videos. Am späten Samstagvormittag waren es bereits 790 Dateien, davon 378 Videos, sagte Polizeisprecher Sabri Yorgun zur APA. Die Plattform bleibt weiter online und Zeugen können Dateien weiterhin unter https://upload.bmi.gv.at/ hochladen.
Polizei screent Profile, Polit-Debatte
Untersucht werden auch die Profile des 21-jährigen Schützen "in der virtuellen Welt", so die Polizei. Man screene Profile, über die er bei Egoshooter-Spielen eventuell mit anderen in Kontakt gestanden sei. Dies geschehe in Hinblick auf mögliche Mitwisser. Über etwaige Kontakte, die der 21-Jährige während der Morde eventuell über das von ihm getragene Headset hatte, wollte man nichts kommunizieren. In jener Siedlung in Kalsdorf im Bezirk Graz-Umgebung, in der der Täter gelebt hat, sei es mittlerweile ruhig. Nachbarn hatten sich u. a. von zahlreichen Medienvertretern bedrängt gefühlt, weshalb Polizisten für Ordnung sorgen mussten.
Die Oppositionsparteien im steirischen Landtag - SPÖ, Grüne, NEOS und KPÖ - übten am Samstag geschlossen Kritik an geplanten Kürzungen im Sozial- und vor allem im Gewaltpräventionsbereich sowie der Extremismusbekämpfung. Dies sei speziell nach dem Amoklauf von Graz gefährlich. Die Parteien wollen die Angelegenheit im Landtag thematisieren. Die Regierungspartei FPÖ wies die Kritik als "maßlose und faktenbefreite Empörung der Oppositionsparteien" zurück. Die Landesregierung habe sichergestellt, dass besonders sensible Bereiche - wie Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenwesen, Seniorenverbände sowie der Gewaltschutz - so wenig wie möglich von Kürzungen betroffen seien, so Klubobmann Marco Triller.
Die Stadt Graz hat ein Spendenkonto eingerichtet, um den Betroffenen des Amoklaufs "mit voller Solidarität" zur Seite zu stehen. Das Spendenkonto sei durch Bürgermeisterin Elke Kahr (KPÖ) und im Einvernehmen mit der Schuldirektorin ins Leben gerufen worden. Der Empfänger lautet: Graz - Zusammenhalten Spenden BORG Dreierschützengasse. IBAN: AT59 1400 0009 1026 0197. Die Stadt wird auch die Begräbniskosten für die Opfer des Amoklaufs übernehmen.
(APA/Red)