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Gesund essen als Besessenheit

Kate Finn wollte sich eigentlich nur gesund ernähren. Sie fastete, aß Rohkost, um den Körper zu „reinigen“, wie sie notierte - und verlor immer mehr an Gewicht...

Angehörige und Freunde erschraken, alle glaubten, sie sei magersüchtig. „Im Dezember 2003 erhielt ich die traurige Nachricht, dass Kate Finn gestorben ist“, schreibt der US-Arzt Steven Bratman.

Nach seiner Diagnose litt sie weder an Magersucht (Anorexia nervosa) noch an Ess-Brechsucht (Bulimie), sondern an einer neuen Essstörung: Orthorexia nervosa (griechisch: orthos = richtig, orexis = Appetit) – dem krankhaften Zwang, sich gesund zu ernähren.

„Sie hatte keine Angst, dick zu werden. Sie wollte nicht dünn sein. Sie wollte einfach nur gesunde Lebensmittel essen“, sagt Bratman, der den Begriff Orthorexia nervosa Ende der neunziger Jahre prägte. „Es ist großartig, gesund zu essen. Und den meisten von uns würde es gut tun, wenn wir ein bisschen mehr darauf achten würden, was wir essen. Manche Menschen haben aber das gegenteilige Problem:
Ihre Auffassung von gesundem Essen ist so extrem, dass sie zur Besessenheit wird.“

Bratman hat Anzeichen aufgelistet: Drei Stunden und mehr am Tag über Ernährung nachdenken, die Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus planen, den ernährungsphysiologischen Wert über die Freude am Essen stellen, lauten einige davon.

Noch ist die Krankheit bei uns kaum bekannt. Fachleute sprechen von einem Phänomen mit hoher Dunkelziffer. „Weil die Leute, die es haben, sich nicht schlecht fühlen“, erläutert der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Essstörungen, Diplompsychologe Andreas Schnebel. „Sie essen Rohkost, ganz, ganz bestimmte biologische Lebensmittel, ganz bestimmte Salze, Gemüse, das nur bei Vollmond gepflückt sein darf“, weiß der Chef der Münchner Beratungsstelle ANAD-pathways. „Die trinken auch kein normales Mineralwasser mehr, sondern es muss ganz spezielles Wasser sein, und es muss vielleicht tagelang offen gestanden haben.“

Manche sind so mit der Zusammenstellung ihres Ernährungsplanes beschäftigt, dass sie sich allmählich von der Umwelt isolieren. „Sie nehmen beispielsweise Notrationen von Nahrungsmitteln, die sie als gesund einstufen, mit zu gesellschaftlichen Anlässen oder meiden Menschen, die sich ihrer Meinung nach ungesund ernähren“, schreibt die Fachagentur www.medizin.de. Wegen ihrer Willenskraft fühlten sich krankhafte Gesundesser anderen Menschen überlegen. „Sie haben etwas Missionarisches.“

Für Diplom-Psychologe Christoph Usbeck von der Universität Düsseldorf wird es krankhaft, sobald die Lebensqualität deutlich beeinträchtigt ist. Bei Störungen wie sozialer Isolierung, depressiver Verstimmung und bedrohlichem Gewichtsverlust sollte gehandelt werden. „Das Krankheitsbild ist zwar schon beschrieben, aber auf Grund der geringen Fallzahlen und der fehlenden Forschung noch nicht in den offiziellen Katalog psychischer Erkrankungen mit aufgenommen“, sagt der Fachmann.

Den Europäern könnte jedoch ihr Sinn für Geselligkeit zu Gute kommen. Eine französische Studie ergab, dass Amerikaner häufig weniger entspannt essen als viele Europäer. Sie legten überdurchschnittlich viel Wert auf eine richtige Dosierung von Nährstoffen, fanden Forscher um den Soziologen Claude Fischler heraus. Dagegen werde vor allem in Südeuropa und Frankreich gutes Essen hauptsächlich mit Familie und Geselligkeit in Verbindung gebracht. Gemütlichkeit statt Kalorienzählen – die meisten Deutschen lassen sich ein Festmahl nicht vermiesen.

Auch abseits der Extreme gilt: „Bio“ boomt. Händler verzeichnen zweistellige Zuwachsraten, zu den neuen Käuferschichten gehören 20-Jährige ebenso wie Pensionisten. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich Öko-Freaks in düsteren Geschäften mit verschrumpelten Karotten tummelten, heute öffnen weitläufige lichtdurchflutete Bio-Supermärkte ihre Pforten. „Gesundes wird zum Massenmarkt, Bio ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen“, meinen Zukunftsforscher.

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