Gespräche zu EU-Beitritt: Von der Leyen in Kiew

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist am Samstag zu Gesprächen über den EU-Beitrittsantrag der Ukraine in Kiew eingetroffen. Die deutsche Spitzenpolitikerin wollte in der Hauptstadt des von Russland angegriffenen Landes mit Präsident Wolodymyr Selenskyj und Ministerpräsident Denys Schmyhal unter anderem noch offene Punkte des Aufnahmegesuchs erörtern. Zudem sollte es um die langfristige Hilfe der EU bei der Beseitigung der Kriegsschäden gehen.
Selenskyj sieht ukrainische Mitgliedschaft entscheidend für EU
"Wir werden eine Bestandsaufnahme der für den Wiederaufbau benötigten gemeinsamen Anstrengungen und der Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg vornehmen", sagte von der Leyen zu ihrer Ankunft in Kiew am Samstagvormittag. "Dies wird in unsere Bewertung einfließen, die wir demnächst vorlegen werden."
Selenskyj bezeichnete die Entscheidung über eine EU-Mitgliedschaft seines Landes als wegweisend für ganz Europa. "Eine positive Antwort der Europäischen Union auf den ukrainischen Antrag zur EU-Mitgliedschaft kann eine positive Antwort auf die Frage sein, ob es überhaupt eine Zukunft des europäischen Projekts gibt", sagte der ukrainische Staatschef am Samstag. Bei der Abwehr des seit Ende Februar andauernden russischen Angriffskriegs habe das ukrainische Volk "bereits einen riesigen Beitrag zur Verteidigung der gemeinsamen Freiheit geleistet", sagte Selenskyj.
Kiew sei dankbar für das kürzlich verabschiedete sechste Sanktionspaket gegen Russland, sagte er. "Doch der Krieg geht leider weiter, daher ist ein siebtes Sanktionspaket erforderlich, das noch stärker sein sollte.". Dieses sollte alle russischen Beamten und Richter treffen, die für den Krieg arbeiteten, forderte Selenskyj. Zudem müssten ausnahmslos alle russischen Banken sanktioniert werden. Der ukrainische Staatschef sprach sich zudem für einen kompletten Verzicht der EU auf russische Energieträger sowie für ein Wiederaufbauprogramm für sein Land aus.
Russlands Angriffskrieg hat Ukraine näher an EU getrieben
Die EU-Kommission wird voraussichtlich kommenden Freitag ihre Einschätzung dazu veröffentlichen, ob der Ukraine der Status als Kandidat für einen EU-Beitritt gewährt werden sollte. Geknüpft an eine solche Empfehlung wären wohl Reformzusagen in Bereichen wie der Rechtsstaatlichkeit oder dem Kampf gegen Korruption.
Entscheidung über Kandidatenstatus liegt bei EU-Staaten
Die Entscheidung darüber, ob die Ukraine den Kandidatenstatus bekommt, liegt bei den EU-Staaten und muss einstimmig getroffen werden. Der EU-Gipfel am 23./24. Juni soll sich damit befassen - die Ansichten der Länder gehen jedoch teils weit auseinander, obwohl die Entscheidung über den Kandidatenstatus die Aufnahmeentscheidung nicht vorwegnimmt und auch nicht mit einem Zeitrahmen verbunden ist. So ist die Türkei beispielsweise bereits seit 1999 EU-Beitrittskandidat.
Die Ukraine hatte im März, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar, einen Antrag auf Annahme in die EU gestellt. Die EU-Staaten beauftragten die EU-Kommission, sich damit zu befassen und eine Empfehlung abzugeben.
EU-Beitritt: Erwartungen der Ukraine riesig
Die Erwartungen der Ukraine an eine Annäherung an die EU sind riesig. Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk machte kürzlich im Europaparlament deutlich, dass es dabei auch um die Moral des ukrainischen Volks geht: "Wir brauchen diesen Ansporn, wir brauchen diesen Beitrittskandidatenstatus. Das muss das ukrainische Volk aus Europa hören", sagte er. Präsident Selenskyj macht immer wieder Druck und sagte jüngst, die EU könne einen historischen Schritt unternehmen und beweisen, dass Worte über die Zugehörigkeit des ukrainischen Volkes zur europäischen Familie nicht bloß leere Worte seien.
Innerhalb der EU birgt diese Frage jedoch erheblichen Sprengstoff - für die EU-Kommission ist es eine Herausforderung, bei ihrer Empfehlung die Interessen aller Länder zu berücksichtigen. Staaten wie Estland, Litauen und Lettland, aber auch Italien oder Irland machen sich nachdrücklich dafür stark, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen. Das sei "eine wichtige politische Botschaft, die wir so schnell wie möglich senden müssen", sagte der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda am Dienstag nach Gesprächen mit Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz. "Wir haben kein moralisches Recht, diesen Augenblick zu verpassen. Die Ukraine verteidigt dieses Recht mit ihrem Blut."
Zuletzt wenige offene Ablehnungen, einige Staaten aber skeptisch
Offene Ablehnung gegen einen solchen Weg gab es zuletzt wenig, doch sind einige Staaten mindestens skeptisch. Dazu gehören etwa Frankreich und die Niederlande. Scholz hat bisher nicht klar Stellung bezogen, jedoch betont, dass er keine Sonderregeln für einen beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine akzeptieren werde. Dabei verwies er auch darauf, dass dies nicht fair gegenüber den sechs Länder des westlichen Balkan sei, die ebenfalls auf einen Beitritt zur EU hoffen. Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien sind bereits EU-Beitrittskandidaten. Der Kosovo und Bosnien-Herzegowina warten noch auf diesen Status. Die Annäherung stockt seit Jahren, Scholz will für eine neue Dynamik sorgen. Er war am Wochenende in Balkanstaaten unterwegs.
Österreich: Westbalkanländer nicht vergessen
Auch Österreich pocht darauf, die Westbalkanländer im Beitrittsprozess nicht zu vergessen. "Für uns ist es notwendig, dass wir allen Balkanländern nicht nur eine Perspektive geben, sondern einen Weg aufzeigen, wie wir zur Europäischen Union kommen", sagte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) gegenüber der APA. Im Fall der Ukraine habe Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) jedenfalls "unmissverständlich klargestellt", dass es "keinen Fast Track (Schnellverfahren)" geben werde, unterstrich der Nationalratspräsident.
Von der Leyens Reise nach Kiew ist bereits ihre zweite seit Beginn des Kriegs am 24. Februar. Sie wurde aus Sicherheitsgründen im Vorfeld nicht öffentlich angekündigt. Im April hatte von der Leyen unter anderem den Kiewer Vorort Butscha besucht, in dem kurz zuvor Kriegsverbrechen öffentlich geworden waren. Selenskyj überreichte sie damals den Fragenkatalog, der für die Bewertung ihrer Behörde der ukrainischen EU-Ambitionen maßgeblich ist. "Wir stehen an eurer Seite, wenn ihr von Europa träumt", sagte sie damals. Ihre Botschaft laute, "dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört".
(APA/Red)