Gaza: Kollaps der Selbstverwaltung
Vor dem Treffen des Nahost-Quartetts (USA, EU, UNO, Russland) am morgigen Dienstag in New York haben die Spannungen zwischen Hamas und Fatah einen neuen Höhepunkt erreicht. Bei Kämpfen im südlichen Gaza-Streifen wurden in der Nacht auf Montag drei Palästinenser getötet. Die Zusammenstöße waren die bisher schwersten seit der Regierungsübernahme der Hamas vor sechs Wochen.
Ein Weltbank-Bericht hatte im März einen Anstieg der Armut unter den Palästinensern auf 67 Prozent sowie eine Zunahme der Arbeitslosenquote auf 40 Prozent bis Ende des Jahres prognostiziert. Bei den persönlichen Einkommen wurde mit einem Rückgang um 30 Prozent gerechnet. „Wir betrachten diese Zahlen als zu niedrig“, schrieb die Institution nun in einem am Sonntag bekannt gewordenen neuen Bericht. Der frühere Weltbankchef James Wolfensohn hatte seine Mission als Palästina-Sonderemissär des Quartetts vergangene Woche mit bitterer Kritik an Israel beendet. In einem Bericht, aus dem die israelische Tageszeitung „Haaretz“ Auszüge veröffentlichte, rief er die Staatengemeinschaft zum raschen Einschreiten auf, weil sonst für die Palästinenser lebenswichtige Dienstleistungen zusammenbrechen müssten. Wenn Israel weiter die Zolleinnahmen zurückhalte und die scharfen Einschränkungen im Waren- und Personenverkehr der besetzten Gebiete aufrecht blieben, drohe den Palästinensern noch dieses Jahr ein Wirtschaftsrückgang um mehr als ein Viertel.
Die Europäische Union fordert von Israel die Überweisung der seit der Hamas-Regierungsübernahme zurückgehaltenen Zolleinnahmen. Die Forderung soll beim Treffen des Quartetts am Dienstag erhoben werden, wie eine EU-Sprecherin ankündigte. Die israelische Regierung hatte die in den Oslo-Verträgen geregelten Transfers von Steuer- und Zolleinnahmen an die palästinensische Regierung wegen des Hamas-Wahlsiegs gestoppt. EU-Kommissar Louis Michel hat erklärt, derzeit sei die Lebensmittelversorgung für etwa 1,4 Millionen Palästinenser gefährdet. Für alte Menschen und Kinder könne die Lage lebensbedrohlich werden.
Russland hat der palästinensischen Führung unterdessen weitere finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt. Nach der Überweisung von knapp acht Millionen Euro für humanitäre Projekte seien zusätzliche Finanzhilfen für das palästinensische Volk nicht ausgeschlossen, sagte der russische Nahost-Beauftragte Sergej Jakowlew in New York, wie die Moskauer Agentur ITAR-TASS am Montag meldete. Auch Norwegen und Japan hätten ihre Bereitschaft zu finanzieller Hilfe ungeachtet der Hamas-Regierungsübernahme bekundet.
Wie ein Fatah-Sprecher am Montag mitteilte, versuchten Hamas-Mitglieder kurz nach Mitternacht einen Anhänger der Fatah zu entführen. Bei einem Feuergefecht wurde ein Hamas-Mitglied schwer verwundet und erlag später seinen Verletzungen. Auf eine Reihe weiterer Entführungen folgte eine neuerliche Schießerei. Dabei schossen die militanten Anhänger der palästinensischen Regierungspartei mit Panzerabwehrraketen auf Fatah-Mitglieder und töteten zwei von diesen. Es habe sich um Angehörige der Sicherheitskräfte gehandelt, zehn Kämpfer seien verletzt worden. Der palästinensische Ministerpräsident Ismail Haniyeh rief beide Seiten zur Ruhe auf. Im palästinensischen Parlamentsgebäude in Ramallah ist am Montag offenbar in Folge eines Kurzschlusses ein Feuer ausgebrochen. Arbeiter aus dem Gebäude wurden nach Angaben von Augenzeugen in Sicherheit gebracht. Niemand sei verletzt worden, hieß es.
Der jordanische König Abdullah II. erklärte, er halte einen Friedensvertrag zwischen Israelis und Palästinensern nur noch in den kommenden zwei Jahren für möglich. „Ich fürchte, wenn diese kurze Zeit vorüber ist, werden die Palästinenser möglicherweise nichts mehr zu verhandeln haben“, sagte der haschemitische Monarch am Sonntag dem Fernsehsender Al-Arabiya. Im Hinblick auf den angekündigten Teilrückzug aus dem besetzten Westjordanland hat die neue israelische Regierung die Armee angewiesen, innerhalb der kommenden vier Monate eine Karte der ohne Genehmigung errichteten Siedlungen zu erstellen. Dies berichtete der öffentliche Rundfunk am Montag unter Berufung auf Angaben eines Armeegenerals. Regierungschef Ehud Olmert will kleinere Siedlungen räumen, aber im Widerspruch zu den Bestimmungen des vom Nahost-Quartett ausgearbeiteten internationalen Friedensfahrplans (Roadmap) die großen israelischen Siedlungsblöcke annektieren. Der Premier hatte die Knesset-Wahlen Ende März mit dem Versprechen gewonnen, die Grenzen bis 2010 notfalls einseitig festzulegen.