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Frankreich: Ultimatum an Regierung

Die französischen Gewerkschaften haben vor dem Hintergrund von landesweiten Massenprotesten von der Regierung in Paris ultimativ die Rücknahme der geplanten Arbeitsmarktreform gefordert.

An den Großkundgebungen gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes für Berufseinsteiger nahmen am Samstag in mehreren Städten mindestens 500.000 Menschen teil. Bei Ausschreitungen wurden 52 Personen verletzt, 167 Unruhestifter nahm die Polizei fest.

Gewerkschaften sowie die Organisationen der Schüler und Studenten haben Chirac und Premierminister Dominique de Villepin nach der dritten nationalen Protestwelle dafür bis Montag Zeit gegeben. Wenn sich nichts bewege, würden sich die Gewerkschaften bei einem Treffen am Montagabend für einen eintägigen Generalstreik aussprechen, sagte der Chef der Gewerkschaft CGT, Bernard Thibault im Radiosender France Inter.

Chirac und Villepin trügen „die volle Verantwortung für die sozialen Spannungen“ im Land, die umkämpfte zweijährige Probezeit für Arbeitnehmer unter 26 Jahren müsse vom Tisch, erklärten Verbände und Gewerkschaften nach der Mobilisierung. Nach Gewerkschaftsangaben demonstrierten am Samstag 1,5 Millionen Menschen, in Paris allein 350.000. Das Innenministerium zählte dagegen 503.600 Demonstranten, etwa 80.000 in der Hauptstadt. Bei Protesttag am 7. März hatte die Polizei 400.000 errechnet, die Gewerkschaften eine Million.

„Es muss etwas geschehen, die Stabilität des Landes ist drei Monate nach den Jugendunruhen in den Vorstädten in Gefahr“, warnte Sozialistenchef Franñois Hollande. Alle Linksparteien hatten sich dem nationalen Protesttag angeschlossen. „Die Hand ist ausgestreckt, die Tür offen“, bekräftigte Regierungssprecher Jean-Franñois Copé die Bereitschaft, das Gesetz zu verbessern. Villepin und Chirac haben es strikt abgelehnt, den „Ersteinstellungsvertrag“ (CPE) zurückzunehmen. „Wenn Villepin sich nicht bewegt, müssen mehrere Gewerkschaften zum übergreifenden Streiktag aufrufen“, forderte der Generalsekretär der Force Ouvrière, Jean-Claude Mailly, am Sonntag eine „Beschleunigung“.

In einer Reihe von Städten kam es am Samstag zu Zwischenfällen, vor allem erneut in der Hauptstadt Paris. Nach den Kundgebungen lieferte sich die Polizei mit Krawallmachern Auseinandersetzungen, die Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Wasserwerfer ein. Scheiben gingen im Osten der Stadt zu Bruch, Autos in Flammen auf, Randalierer bauten Barrikaden. Die letzten Demonstranten verließen gegen Mitternacht das Uni-Viertel.

In mehreren Städten blockierten Demonstranten Bahnhöfe. So griff in Nancy die Bereitschaftspolizei CRS ein, um die von Demonstranten blockierten Gleise zu räumen. Von 200 Demonstranten mit Flaschen und Steinen beworfen, setzte die Polizei auch in Lille Tränengas ein. In Marseille kletterte am Samstag eine Gruppe linksgerichteter Jugendlicher auf die Fassade der Stadthalle und entrollte eine französische Flagge mit der Aufschrift „Antikapitalismus“. Ein Fotograf der Sonntagszeitung „Journal du dimanche“ berichtete von gewaltsamen Übergriffen einer mobilen Gendarmerieeinheit auf ihn und eine Kollegin.

Nach Umfragen wollen 68 Prozent der Franzosen eine Rücknahme der Reform. Mit ihr will Regierungschef Villepin die hohe Arbeitslosigkeit in der jungen Generation angehen. Die Mitte Jänner begonnene Auseinandersetzung um das Reformgesetz hat den engen Chirac-Vertrauten in der Beliebtheit markant abstürzen lassen. Villepin ist seit zehn Monaten im Amt und sieht sich als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen im Frühjahr 2007.

Der Arbeits-Soziologe Francois Dubet wertete die Proteste als „die Antwort der Mittelklasse auf die Bewegung in den Vorstädten“. Beide Welten misstrauten einander, sagte Dubet der Pariser Tageszeitung „Le Monde“ vom Sonntag; sie hätten aber „sehr ähnliche Ängste: Einige sind schon draußen, die anderen fürchten, sich ihnen anzuschließen“.

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