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Flüchtlinge im Libanon: "Das kann sich in Europa niemand vorstellen"

UNHCR: "Europa und die Welt müssen Solidarität zeigen und Menschen aus dem Libanon holen"
UNHCR: "Europa und die Welt müssen Solidarität zeigen und Menschen aus dem Libanon holen" ©AP
Beirut. Drei bis vier Kinder pro Familie müssen bei der Ernte helfen oder Lkw entladen, damit sie an einem Tag so viel nach Hause bringen wie ein Erwachsener - und selbst dann reicht das Geld der syrischen Flüchtlinge in Jdita im Libanon nur für ein Zelt als Dach überm Kopf. "Die zugesagten Hilfsgelder müssen fließen", appelliert Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ): "Es ist fünf nach zwölf."

Seine Forderung richtet sich “an alle Mitgliedsstaaten” der EU, Österreich nicht ausgenommen, wie Doskozil auf Nachfrage vor Journalisten in einem Hotel in Beirut erklärt. Es sei wichtig, “vor Ort” zu helfen, auch im europäischen Interesse. Geschätzte 1,5 Mio. Flüchtlinge, die genaue Zahl kennt niemand, halten sich im Libanon auf – das entspricht einem Viertel der Bevölkerung in dem Land, das kaum größer ist als Kärnten und im Osten wie im Norden an das Bürgerkriegsland Syrien grenzt. “Das kann sich ja in Europa niemand vorstellen.”

Eigentlich hätte der multikonfessionelle Libanon mit seiner krisen- und kriegsgebeutelten Geschichte schon genug mit sich selbst zu tun – die hohe Zahl an Flüchtlingen sprengt nun teilweise das System. Bei den Hilfsgeldern der Union gehe es um Schulgeld für die Kinder und medizinische Versorgung, aber auch um Perspektiven für die Flüchtlinge, damit sie auch wieder in ihre Heimat zurückkehren können, erläutert Doskozil.

Zu diesem Zeitpunkt hat der Minister seine Schuhe bereits wieder gegen saubere getauscht. Die anderen waren vom Schlamm in Mitleidenschaft gezogen, den der Regen in die kleine Zeltstadt in Jdita, etwa eine Autostunde von Beirut entfernt, gebracht hat. Zwei Dutzend Zelte stehen dort, auf einem Feld etwa 50 Kilometer vom syrischen Damaskus entfernt. Sie beherbergen rund 150 Syrer, fast die Hälfte davon Kinder.

Der Minister greift sich auf den Kopf. Er ist gerade von einer alten Frau mit Reis beworfen worden, als Zeichen der Freude, so wie man es von Hochzeiten kennt. Der Besuch des Politikers und seiner Delegation ist ein Event, alle sind gekommen, um die Fremden zu sehen. Zwischen wehenden weißen Zeltplanen und den dünnen Stämmen von schnellwachsenden Bäumen, die bald als Feuerholz dienen sollen, umringen die Flüchtlinge den Politiker aus Österreich und erzählen ihm ihre Geschichte. Sie wolle nach Deutschland, ihr Mann sei schon dort, bittet eine Frau den Minister um Hilfe.

“Europa und die Welt müssen Solidarität zeigen und Menschen aus dem Libanon holen”, findet Mireille Girard vom UNHCR. Notwendig wären 100.000, um den Libanon zu entlasten. Geschlossene Grenzen lösten das Problem nicht – die Menschen kratzen ihr gesamtes Geld zusammen, um illegal weiter zu kommen. Hier gebe es für die meisten keine Perspektive, erklärt Girard. Zuerst hätten die Syrer mit einem halben oder einem Jahr außerhalb ihrer Heimat gerechnet – nun werde ihnen klar, dass es noch mehrere Jahre sein dürften, bis sie sich trauen, wieder zurückzukehren. Arbeiten dürfen sie in der Zwischenzeit im Libanon nicht.

Vom Staat geduldet werden sie freilich als Schwarzarbeiter einflussreicher Familien, heißt es. Doch nicht nur die profitieren durch billige Arbeitskräfte von der Flüchtlingskrise: In einem Land, das wegen der historischen Erfahrungen mit den Palästinenser-Lagern keine offiziellen Flüchtlingscamps erlaubt, ist das Vermieten von Baracken, Kellern, halbfertigen Häusern und Garagen ein gutes Geschäft. 80 Prozent der Flüchtlinge hier leben so. Doch je mehr es werden, desto knapper wird der Raum.

Vielen bleibt dann nur mehr eine der rund 1.700 selbstverwalteten Zeltsiedlungen – und selbst dort ist Miete fällig. 1.000 libanesische Pfund, umgerechnet 60 Cent, verdient ein Kind am Tag, wenn es Hilfsarbeiten verrichtet, statt in die Schule zu gehen. Für ein Zelt kassieren die privaten Grundbesitzer im Monat etwa 90 Euro, Strom kostet extra. Etwas Geld, aber vor allem Planen, Holz und Latrinen stellen das UNHCR oder Hilfsorganisationen wie die Caritas zur Verfügung. Die Flüchtlinge haben auch gelernt, zu improvisieren – da werden dann blitzblaue Fensterläden zweckentfremdet, um am Weg zum Nachbarn nicht im Schlamm auszurutschen.

Doskozil nimmt von seinem Besuch Eindrücke mit, “die einem nahe gehen”. Um die Gesamtsituation zu beurteilen, müsse man aber Abstand gewinnen, betont er. Österreich leiste in der aktuellen Situation “sehr viel”, wogegen sich andere Länder in Europa “überhaupt nicht beteiligen”. Eine “Gesamtlösung” sei notwendig, bekräftigte der Minister.

Auch will der Minister die europäische Aufmerksamkeit auf die Rolle und Bedürfnisse des Libanon richten und quasi als “Sprachrohr” agieren. “Ich hoffe, dass das auch gehört wird.” Instabile Verhältnisse in dem ohnehin volatilen Staat wären eine “Katastrophe” für die Region, warnte Doskozil. An einem anderen Brennpunkt im Land tragen die Österreicher bereits seit ein paar Jahren zu einer sicheren Umgebung bei: Im Süden an der Grenze zu Israel sind fast 180 österreichische Blauhelme für die UNO-Mission (UNIFIL) im Einsatz. Ihnen stattet der Minister am Freitag zum Abschluss seiner Reise noch einen Besuch ab. (APA/dpa)

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