AA

Flüchtlingsdrama vor Lampedusas Küste

Auf Lampedusa, der italienischen Insel auf halbem Wege nach Afrika, meiden manche Einwohner seit neuestem den Verzehr bestimmter Fischarten.

Immer wieder entdecken die Fischer der 5.000-Einwohner-Insel aufgedunsene Leichen im Meer – da vergehe einem der Appetit. Zwar meinen Ärzte, obwohl in den vergangenen Tagen fast 300 Flüchtlingen aus Afrika vor der Küste Lampedusas ertrunken sind, sei das Fischessen weiterhin völlig unbedenklich. Aber die Panik scheint typisch – auch in Rom spielen derzeit die Politiker beim Thema illegaler Einwanderer verrückt.

So richtig entfacht hat den neusten Wirbel der Vorsitzende der populistischen Lega Nord, Umberto Bossi. Dem 61-Jährigen, der in den 90er Jahren in Norditalien den Fantasie-Staat „Padania“ ausgerufen hatte, bestätigt wieder einmal seinen Ruf als enfant terrible der römischen Politik. Gegen die Flüchtlingsinvasion, meinte er vollmundig, müsse man eben auch mit Gewalt vorzugehen, selbst Schüsse der Küstenwache auf die Boote mit den Verzweifelten aus Afrika und Asien seien da nicht mehr Tabu. „Ich will das Donnern von Kanonen hören“, soll Bossi gesagt haben.

Zwar dementierte er seine Äußerungen später halbherzig, aber die Gespenster-Debatte war losgetreten. Mehrfach verlangte die Lega Nord den Rücktritt von Innenminister Giuseppe Pisanu, fordert „harte Maßnahmen“ und droht ansonsten mit dem Bruch der Koalition von Ministerpräsident Silvio Berlusconi.

Während die Politiker in Rom publikumswirksam ihr „Sommertheater“ inszenieren, vollzieht sich auf dem Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien das Drama, an das sich Europa in Wirklichkeit längst gewöhnt hat. Einmal ertrinken fast 70 Menschen, ein paar Tage später fast 200 Passagiere – große Schlagzeilen machen solche Tragödien schon lange nicht mehr.

Man weiß nicht einmal mehr genau, woher die Menschen kommen, die 1.000 Dollar (858 Euro) und mehr zahlen, um sich zu Hunderten in völlig überladene Kähne zu drängen – nur um die „Außengrenzen“ der EU zu überwinden und in den Auffanglagern in Italien oder Spanien zu landen, in der vagen Hoffnung auf einen Job und ein halbwegs menschenwürdiges Leben.

Italienische Medien berichten, Libyen sei derzeit zum bevorzugten Land geworden, von der die Flüchtlingsboote ins Meer stechen. Die Menschen kämen aus Somalia und anderen afrikanischen Ländern. Tage, manchmal Wochen lang würden sie durch die Wüste wandern, um die geheimen Treffpunkten mit den Schlepperbanden zu erreichen. Ein Korrespondent der Zeitung „La Repubblica“ berichtete von einem Wüstennest an der Grenze von Tunesien und Libyen, wo es derzeit „das größte Reisebüro in Nordafrika“ gebe – verkauft würden ausschließlich „Tickets für eine einfache Fahrt“.

Doch zu dem ganzen Wirbel in Italien wollen die offiziellen Zahlen, die Regierung jüngst vorlegte, so gar nicht passen. Demnach kamen bis Anfang/Mitte Juni nämlich nur die Hälfte der Flüchtlinge nach Italien wie vor einem Jahr – lediglich 5 270 Menschen. Selbst wenn in den vergangenen Tagen nochmal über 1000 dazukommen – von einer „emergenza“, einem Notstand, kann wohl kaum die Rede sein.

„Wir kennen Bossi viel zu lange, um seine Drohung eines Bruchs der Regierung ernst zu nehmen“, kommentiert die Zeitung „La Repubblica“ das Sommertheater. Zwar war es Bossi, der die erste Regierung Berlusconi 1994 zu Fall brachte. Aber selbst Berlusconi winkt bei der Gefahr „Bossi“ ab. „Ich werde nicht wie 1994 enden!“ Schließlich ist seine Mehrheit so breit, dass er auf die Lega-Stimmen notfalls verzichten kann. Daher mutmaßt die römische Zeitung, die aufgeregte Rhetorik Bossi habe eigentlich ein ganz anderes Ziel: Von den Negativ-Schlagzeilen über das neue Immunitätsgesetz abzulenken, das Berlusconi vor einer drohenden Verurteilung in einem Korruptionsprozess schützt – dieses Ziel ist bereits erreicht.

  • VIENNA.AT
  • Chronik
  • Flüchtlingsdrama vor Lampedusas Küste
  • Kommentare
    Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.