Field Supervisor der Wiener Berufsrettung: "Dann kam wieder eine Reanimation"

Wien-Leopoldstadt, Prater, Dienstag 16.07 Uhr: Ein Berufsrettungs-SUV steht mit ausgeschaltetem Motor neben einer Wiese, der Schlüssel steckt. Pause für Lenker Benedikt F. Der 34-Jährige steht am Rotundenplatz und nippt an einer Trinkflasche, als ein Alarm auf dem Handy läutet. Code "09E01" leuchtet am Display auf - "Herzkreislaufstillstand, weibliche Person, Westbahnhof". Dann muss alles ganz schnell gehen. F. reißt die Fahrertür auf, startet den Motor und steigt aufs Gas.
"Euch wird eh nicht schlecht vom Fahren?"
Der ausgebildete Notfallsanitäter ist Lehrer an der Rettungsakademie der Wiener Berufsrettung und einer von 16 Field Supervisoren (FiSu). Wer bei ihm ins Auto einsteigt, um ihn bei seiner Arbeit zu begleiten, braucht mitunter einen guten Magen. "Euch wird eh nicht schlecht vom Fahren?", fragt F. Dabei prescht er mit Blaulicht und Sirene von der Kaiserwiese los in Richtung Fünfhaus.
Wenn die FiSus ausfahren, geht es meistens um Leben und Tod. "Wir kommen vor allem, wenn es um komplexere Situationen geht, wie Reanimationen, schwere Verkehrsunfälle oder Kindernotfälle", erklärt der administrative Leiter des FiSu-Systems, Philipp Gonzo, auf der Rückbank des SUV, während Benedikt F. durch Wien rast. Als FiSu notiert F. sich nicht nur Probleme aus dem Praxisalltag noch am Ort des Geschehens, sondern unterstützt seine Kolleginnen und Kollegen bei komplexeren Szenarien oder legt - wenn es darauf ankommt - als erster Retter selbst Hand an.
"Wir arbeiten grob in drei bzw. vier Einsatzkategorien. Kategorie eins ist die reine Supervision, wo der FiSu den Einsatz quasi von außen verfolgt und Daten sammelt, die im Endeffekt wieder in die Ausbildung einfließen", erklärt Gonzo. "Kategorie zwei wäre dann, wenn der Benedikt in dem Fall dann einzelne Maßnahmen selbst durchführt, beispielsweise einen Patienten intubiert oder vielleicht einen Zugang legt", fährt er fort. "Und Kategorie drei bis vier beschreibt eher den Fall der Single Response, das heißt, wenn wir das ersteintreffende Rettungsmittel sind."
FiSu-System vor Jahren etabliert
Aufbauend auf den Erkenntnissen einer Studie im Rettungswesen wurde das FiSu-System bei der Berufsrettung 2011 etabliert. "Man hat erkannt, dass es praktisch ist, wenn man Leute zu Einsätzen mitschickt und die Learnings und Problemstellungen von dort wieder mit in die Ausbildung fließen lässt", sagt Gonzo, der seit 13 Jahren bei der Berufsrettung tätig ist. Nicht ohne Stolz spricht man dort vom "einzigen Field-Supervisor-System seiner Art" in Europa. "Ähnliche Modelle gibt es derzeit nur in Nordamerika", heißt es von der Berufsrettung zur APA. "Alle 16 Field Supervisoren sind auch als Lehrer an der Rettungsakademie tätig", betont Gonzo. Drei FiSus arbeiten pro Tag in ganz Wien.
An diesem Tag sitzt F. als einer von ihnen im Fahrersitz des Skoda Kodiaq. Der 34-Jährige hat seit dem Blitzstart beim Prater noch kein Wort gesprochen. Er schaltet den Gang weiter hinauf und beschleunigt. Der Motor heult. Währenddessen blinkt der Notfall-Monitor auf dem Armaturenbrett mehrmals auf. Nervös blickt F. auf den Screen. Weitere Informationen zu dem Einsatz trudeln ein: 20 Jahre, kein Bewusstsein, die Frau liege auf einer Bank vor einem Restaurant am Europaplatz, weitere Lage unklar.
Auch die Kriterien für den Einsatz einer Herzlungenmaschine (EKMO) treffen offenbar zu. Das AKH meldet eine EKMO für die junge Frau bereit zu halten, erfährt der ausgebildete Notfallsanitäter über den Monitor. Es wird kritischer. Für F. tickt die Uhr nun noch schneller. "In solchen Fällen rechnet man bereits im Kopf durch, wie schnell man vom Einsatzort beim Spital sein kann, wie lange man vor Ort Zeit mit dem Patienten hat und so weiter", erklärt Gonzo den Grund dafür.
Nach 14 Minuten Fahrt ist F. am Ziel und erkennt noch im Auto eine Frau auf den Stiegen vor dem Lokal sitzen, während ein Notarzt der Berufsrettung auf sie einredet. "Das dürfte die Patientin sein. Glück gehabt." Er parkt wenige Meter vor dem Eingang zu dem Schnellrestaurant und steigt mit einem Klemmbrett aus dem Auto. "In diesem Fall werden die Kollegen wohl keine Unterstützung brauchen", sagt er. Dann spaziert er zu seinen Kollegen und kehrt kurze Zeit später zurück zum Wagen. Die Anspannung löst sich allmählich. "Auch das kommt natürlich immer wieder vor, dass sich der Grund für den Einsatz dann doch als nicht so schlimm wie befürchtet herausstellt", erklärt F. Die Frau sei dann zur weiteren notfallmedizinischen Versorgung an das Team des Rettungswagens übergeben worden.
Job am Wiener Westbahnhof erledigt
Nach einem kurzen mündlichen Feedback für die Kollegen des Rettungswagens ist sein Job am Westbahnhof um kurz vor 17.00 Uhr erledigt. In solchen Fällen genüge in der Regel eine kurze Rückmeldung, betont F. Dann geht es zurück ins Fahrzeug.
F. ist an diesem Arbeitstag bereits seit mehr als neun Stunden unterwegs. Ein Arbeitstag, der es bisher in sich gehabt habe: "Es ging los mit einer Reanimation, dann ist es mit einer Reanimation weitergegangen, die keine war, dann ein Storno. Dann kam die Reanimation einer älteren Dame, die leider verstarb. Dann ein fünfjähriges Kind mit Krampfanfall, wo ich als erstes Rettungsmittel vor Ort war. Dann ein Verkehrsunfall, noch ein Verkehrsunfall mit Reanimation, dann ein Ertrinkungsnotfall, dann ging es weiter zu einer Reanimation und dann...?" F. kommt ins Grübeln, dann fällt es ihm wieder ein. "Dann kam wieder eine Reanimation." Nachsatz: "Das hat sich alles zwischen 7.00 und 14.15 Uhr abgespielt."
Zwei Stunden hat F. noch bis Feierabend. "Mal schauen, was noch reinkommt", sagt er, wieder am Steuer des Pkw und auf dem Weg in die Zentrale in Wien-Landstraße. Dort bleibt nun endlich Zeit für die Dokumentation, das Protokollieren der Einsätze. Die Berichte und Protokolle fließen in die Akademie mit ein.
Berufsrettungs-Chef Rainer Gottwald streicht im APA-Gespräch vor allem den Wert des Systems für die Ausbildung heraus. "Die Lehrer, die als FiSus auf der Straße sind, erkennen, wo es Schulungsbedarf gibt und können im Bedarfsfall gleich selbst eingreifen", sagt Gottwald. "Wir haben den Vorteil dadurch, dass wir die Praxis auch in die theoretische Ausbildung miteinfließen lassen können", erklärt er. "Lehrkräfte sind bei uns nicht nur Lehrkräfte sondern auch Fachexperten und Praktiker an der Basis", betont Gottwald, der die einzige Berufsrettung Österreichs leitet.
Gottwald: Nachholbedarf vorhanden
Generell gebe es bei der Sanitäterausbildung in Österreich noch großen Nachholbedarf. "Ich kenne keinen Beruf sonst, wo man in dieser Verantwortung mit einer 100-stündigen Theorie-Ausbildung tätig werden kann", sagt der studierte Gesundheitsökonom in Anspielung auf die übliche Anzahl an Theoriestunden für die Ausbildung zum Rettungssanitäter. Man habe sich darum in Wien bewusst höheren Standards verschrieben und sei auch deshalb stets an der Weiterentwicklung der eigenen Ausbildung interessiert. Hier schließe sich der Kreis zum FiSu-System.
Gottwald fordert jedoch auch mehr Kompetenzen für Sanitäterinnen und Sanitäter. Wäre es in einem Einsatzteam möglich, eine Person nach professioneller Einschätzung des Gesundheitszustandes in häuslicher Pflege zu belassen, könnten unnötige Spitalsaufenthalte vermieden werden. "So könnte das System insgesamt entlastet werden", sagt Gottwald.
In der Radetzkystraße unterbricht eine Alarmierung fast eine Stunde später Benedikt F. beim bürokratischen Teil seiner Arbeit: Code "27D05" für "Stich-, Schuss- oder Pfählungsverletzung" ist der Grund dafür. Dieses Mal liegt der Einsatzort nur wenige Minuten von der Leitstelle entfernt: Erdbergstraße 97. Sofort geht es mit dem Skoda durch die Garage der Zentrale raus auf die Straße. "Das könnte heikel werden", sagt Gonzo auf der Rückbank. "Solche Einsätze absolvieren wir oft gemeinsam mit Wega oder Cobra. Da steht natürlich auch Eigensicherung im Vordergrund", erklärt Gonzo, der selbst jahrelang als FiSu an vorderster Front gearbeitet hat.
Als das FiSU-Auto eintrifft, haben Polizisten bereits die Straße abgesperrt. Mittlerweile ist klar, dass keine Gefahr für die Rettungsteams besteht und es sich um einen männlichen Patienten handelt. F. steigt aus, schultert seinen Notfallrucksack und geht in eine Wohnung in einem Mehrparteienhaus. Acht Blaulichtfahrzeuge von Polizei und Rettung stehen bereits in der Straße. In der Nachbarschaft herrscht Aufregung aufgrund des Polizeiaufgebots. "Was ist das los?", fragt ein älterer Herr. "Für Sie besteht keine Gefahr", sagt Gonzo. Auch das gehöre zur Arbeit bei der Berufsrettung.
F. legt Venenzugang
In der Wohnung angelangt, treffen F. und seine Kollegen auf einen "potenziell kritischen Patienten". Diesmal ist auch F. gefragt. Er legt einen Venenzugang. Nach 20 Minuten bringen die Männer einen blutüberströmten Mann auf einer Trage aus dem Haus - er ist bei Bewusstsein. Dann übergibt F. den Mann an den Notarzt.
"Er gab an, er sei mit einem Messer angegriffen worden, obwohl sich niemand in der Wohnung befand", erklärt F. danach. Ob sich der Patient selbst verletzt hat oder tatsächlich attackiert wurde, bleibt auch für ihn offen.
Nach emotionalen Einsätzen können sich grundsätzlich alle Einsatzkräfte an speziell geschulte Kolleginnen und Kollegen wenden, um zu sprechen, wird bei der Berufsrettung betont. Für F. gehört auch das zur Job-Description. Er übernimmt dann das "Debriefing", bespricht mit seinen Kolleginnen und Kollegen das Erlebte und schenkt ihnen ein offenes Ohr.
Das sei nun die letzte Etappe vor dem Feierabend, heißt es um kurz nach 19.00 Uhr von F. zurück in der Garage der Leitstelle in der Radetzkystraße. "Denn auch uns geht die Arbeit an die Substanz."
(APA/Red)