Mit seiner Aufforderung an französische Juden, wegen des wildesten Antisemitismus in ihrem Land rasch nach Israel auszuwandern, hat Ministerpräsident Ariel Sharon einen schweren Konflikt mit der französischen Regierung, aber auch mit führenden Vertretern des französischen Judentums herbeigeführt. Das Pariser Außenministerium wies die Äußerungen Sharons vom Sonntag als inakzeptabel zurück und forderte von der israelischen Regierung eine Klarstellung. Der Präsident der Nationalversammlung, Jean-Louis Debré, dessen Familie jüdischer Abstammung ist, erklärte am Montag, Sharons Aussagen würden nicht der Realität entsprechen und seien Ausdruck einer Feindseligkeit gegenüber unserem Land. Den Rassismus bekämpfe man nicht, indem man das Terrain verlässt.
Israels Regierungssprecher Avi Pazner erklärte am Montag, Sharons Worte vom Vorabend seien in Frankreich falsch verstanden worden. Der Premier habe zwar gesagt, der Platz der französischen Juden sei in Israel; dies gelte aber auch für alle anderen Juden auf der Welt. Sharon habe zudem herzliche Worte für den Einsatz der französischen Regierung gegen antisemitische Ausschreitungen gefunden.
Wenn ich unseren Brüdern in Frankreich einen Rat geben sollte, dann diesen: Geht so schnell wie möglich nach Israel!, hatte Sharon vor Vertretern amerikanischer Juden in Jerusalem erklärt. In Frankreich breite sich der wildeste Antisemitismus aus. Zehn Prozent der dortigen Bevölkerung seien heute Muslime. Das schaffe eine neue Art von Antisemitismus, der auf antiisraelischen Gefühlen und Propaganda basiere. Der Quai dOrsay teilte noch am Sonntagabend mit, die israelische Regierung sei gebeten worden, diese unannehmbaren Äußerungen klarzustellen. Wir dürfen nicht eine Gemeinschaft gegen die andere aufhetzen, betonte der Parlamentspräsident und frühere Innenminister Debré.
Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie erklärte am Montag, Frankreich sei sicherlich das Land mit den strengsten Gesetzen zu allen Problemen rassistischer Art. Der Präsident der Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus (LICRA), Patrick Gaubert, sagte im französischen Fernsehen, Sharon hätte besser geschwiegen. Ein Sprecher des Großrabbiners von Frankreich, Joseph Sitruk, wies die Aussagen Sharons zurück; der Auswanderungsappell sei unbegründet und gegenstandslos. Vom Exekutivbüro des jüdischen Zentralrates CRIF kam der Vorwurf, Sharon würde in nicht hinzunehmender Weise Öl ins Feuer gießen. CRIF-Ehrenpräsident Theo Klein erklärte, Sharon sollte es der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs überlassen, sich um ihre Probleme zu kümmern: Er hat nicht für uns zu entscheiden. Klein, eine der prominentesten jüdischen Persönlichkeiten Frankreichs, hatte Sharon schon bei früheren Anlässen des Missbrauchs des Antisemitismus-Vorwurfs beschuldigt.
Die konservative Pariser Tageszeitung Le Figaro sprach von einem Affront. Sharon wolle den Pariser Einfluss neutralisieren, weil Frankreich als das pro-palästinensischste EU-Land angesehen wird. Sharons Angriff ist in zweifacher Hinsicht unwürdig: Weil Frankreich nicht antisemitisch ist. Weil er weiß, dass Frankreich nicht antisemitisch ist. Juden wurden angegriffen oder beleidigt. Aber es gibt in unserem Land weder eine Politik noch Ressentiments gegen die jüdische Gemeinschaft. Ganz im Gegenteil – diese Gemeinschaft, eine der größten weltweit, beweist schon allein durch die Anzahl ihrer Mitglieder, wie sehr sie in der französischen Nation verankert ist. (…) In Wahrheit will Sharon ein Frankreich, das weiterhin Arafat verteidigt, seiner Legitimität berauben. Das französische Innenministerium registrierte nach eigenen Angaben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 510 antisemitische Übergriffe oder Drohungen. Im gesamten Jahr 2003 waren es 593 Fälle. Oft handelt es sich um Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen oder Einrichtungen der jüdischen Gemeinden.
Empörung hatte zuletzt in Frankreich ein von dem angeblichen Opfer erfundener und als antisemitisch motiviert dargestellter Überfall auf eine junge Mutter in einem Pariser Vorortezug hervorgerufen. Die Schilderung der 23-jährigen Frau, wie sie und ihre 13 Monate alte Tochter vor den Augen von etwa 20 völlig passiven Reisenden von sechs Jugendlichen arabischer und afrikanischer Herkunft überfallen, als Jüdin beschimpft und mit Hakenkreuzen beschmiert worden wären, hatte einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Der französische Politologe und Historiker Alfred Grosser, dessen jüdische Familie 1933 aus Deutschland flüchten musste, hat jüdischen Organisationen Mitschuld am neuen Antisemitismus zur Last gelegt, weil sie sich demonstrativ mit der israelischen Regierungspolitik gegen die Palästinenser solidarisierten. Nicht die Juden seien benachteiligt in der französischen Gesellschaft, sondern die moslemischen Einwandererkinder in den Vorstädten, deren Hass auf die verbrecherische Politik des israelischen Regierungschefs völlig undifferenziert auf die Juden zurückschlage, hatte Grosser erklärt. Der alltägliche Rassismus, dem insbesondere Nordafrikaner und Schwarzafrikaner ausgesetzt seien, errege im Gegensatz zu den Übergriffen auf Juden keinerlei Aufsehen. Ein heftiger Streit um die Gleichsetzung von Israel-Kritik und Antisemitismus hatte Grosser dazu veranlasst, aus dem Aufsichtsrat des liberalen Pariser Nachrichtenmagazins LExpress auszuscheiden.