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EU-Verfassung im Koma

Nach Fiasko in Brüssel liegt EU-Verfassung im Koma. Chirac schlug Schaffung eines "Kerneuropa" vor, das außerhalb der Verträge stärker zusammenarbeiten will.

Ob ihre Wiederbelebung gelingt, ist alles andere als sicher. Zwar haben sich die EU-Chefs in Brüssel darauf verständigt, die Suche nach einem akzeptablen Konsens unter der irischen Ratspräsidentschaft fortzusetzen, aber wann und wie – und vor allem ob – dies überhaupt gelingen kann, ist derzeit völlig offen.

Wahrscheinlich werde die EU erst im Herbst nach geschlagenen Wahlen in Spanien und Polen noch einmal versuchen, bei einem neuen Gipfel zu einem Durchbruch zu kommen, verlautete aus den Delegationen. Vorher habe ein neuer Anlauf keinen Sinn, denn eine Änderung der verhärteten Positionen sei nicht schnell zu erwarten. Doch die Frage ist, ob nach der Aufnahme von zehn neuen Staaten bessere Voraussetzungen für eine Einigung bestehen. Denn während sich die EU jetzt einfach nur mehr Zeit geben will, um wieder aus der Sackgasse herauszukommen, entsteht unter ihren Gründerstaaten (Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg) bereits eine neue Dynamik.

Als erster preschte nach dem gescheiterten Gipfeltreffen der französische Staatspräsident Jacques Chirac mit dem Vorstoß zur Schaffung einer „Pioniergruppe“ in der EU vor – jenes „Kerneuropa“ also, das außerhalb der Verträge stärker zusammenarbeiten will. Auch der belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt erklärte, sein Land und andere wären „nicht zu einem weiteren Kuhhandel bereit“. Sollte es in den nächsten Wochen oder Monaten keine EU-Verfassung geben, wäre ein Vorangehen der Gründerstaaten „klar“. „Eine Erklärung der Gründerstaaten wird es sicher geben, nicht heute, aber doch“, gab ein EU-Diplomat die allgemeine Stimmungslage wider.

Nach übereinstimmenden Informationen aus den Delegationen war es Chirac, der beim gemeinsamen Frühstück mit dem britischen Premier Tony Blair, Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder und EU-Ratspräsident Silvio Berlusconi auf eine Entscheidung drängte. Man werde sich nie mit Polen und Spanien im Streit um das Stimmrechte einig, habe Chirac argumentiert. Sollte dies bis Samstagmittag nicht gelingen, sollte man den Gipfel platzen lassen.

Was ein solches „Kerneuropa“ für die Zukunft der EU bedeuten würde, ist noch nicht absehbar. „Natürlich kann man die EU auf Basis des Konventsergebnisses neu gründen“, meint Josef Janning, Vizedirektor des Münchener Centrums für angewandte Politikforschung. „Die Frage ist nur: Was passiert dann aus der EU der 25?“ Ein „Kerneuropa“ wäre noch „die beste aller schlechten Lösungen“, meint der deutsche Klaus Hänsch, Beobachter des Europaparlaments bei den Verfassungsverhandlungen. Viel schlimmer wäre eine Stagnation und ein Zerfallen der Union in unterschiedliche Gruppierungen ohne Kern. Dann „kann es so sein, dass das große Werk der europäischen Einigung zerfasert, zerfleddert und scheitert.“

Doch diese Schreckensszenarien müssen für Europa nicht eintreten. Für das Tagesgeschäft wird die EU auch ohne Verfassung nach der historischen Erweiterung im Mai nächsten Jahres handlungsfähig bleiben. Die angestrebte politische Union, das selbstgesteckte Ziel, die EU der 25 zum „globalen Akteur“ zu machen, rückt aber ohne grundlegende Reform der Institutionen in die Ferne.

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