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EU & Türkei: Riesenchance oder Ruin?

Die Staats- und Regierungchefs der EU stimmen am Freitag voraussichtlich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Folgen eines möglichen EU-Beitritts des Landes in Europas äußerstem Südosten sind schwer abzuschätzen.

Befürworter und Gegner sind nach wie vor gespalten über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen einer Aufnahme der Türkei.

WAS KOSTET DIE AUFNAHME DER TÜRKEI?

Laut einer Studie der EU-Kommission würde die Mitgliedschaft der Türkei jährlich zwischen 16,5 Milliarden und 27,5 Milliarden Euro kosten. Grundlage für die Zahlen ist die prognostizierte Situation im Jahr 2025. Das entspricht zwischen 0,1 Prozent und 0,17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. Bei angenommenen Kosten von 20 Milliarden Euro im Jahr müsste laut des Brüsseler Zentrums für europapolitische Studien jeder EU-Bürger monatlich vier Euro für den Türkei-Beitritt ausgeben. Laut EU-Studie wäre der wirtschaftlichen Gewinn eines Beitritts dagegen eher gering. Einmal, weil die Wirtschaft der Türkei relativ klein ist. Zudem ist sie bereits heute stark in der EU integriert.

WAS BEDEUTET EINE MITGLIEDSCHAFT FÜR DEN EU-ARBEITSMARKT?

Laut einer Komission unter Leitung des früheren finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari könnten bis zu 2,7 Millionen Türken nach einem Beitritt ihr Land verlassen und in anderen EU-Ländern arbeiten und leben wollen. Das entspricht etwa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU. Einige Wirtschaftsexperten halten dies für eine positive Entwicklung. Sie betonen, dass künftig in den alternden Gesellschaften vieler EU-Länder dringend Arbeitskräfte benötigt werden. Übergangsfristen für die vollen Freizügigkeit könnten die Einwanderung aber – ähnlich wie bei der Osterweiterung – zudem regulieren.

WIE VERÄNDERT SICH DIE EU DURCH EINEN MOSLEMISCHEN STAAT?

Eine Studie der EU-Kommission argumentiert, dass der Beitritt zeigen könnte, dass moslemische Werte mit denen der EU vereinbar sind – mit Freiheit, Demokratie oder der Achtung der Menschenrechte etwa. Anhänger des türkischen Beitritts verweisen auch auf die laizistische Tradition der Türkei, also auf die strikte Trennung von Kirche und Staat in dem Land. Gegner des Beitritts weisen darauf hin, dass nur der europäische Teil der Türkei wohlhabend und liberal ist. Sie geben zugleich zu bedenken, dass der weit größere asiatische Teil stark konservativ geprägt ist.

WELCHE AUSWIRKUNGEN HAT EIN MITGLIEDSCHAFT FÜR DAS EU-MACHTGEFÜGE?

Die Türkei hat zurzeit 71 Millionen Einwohner. Im Jahr 2015 werden voraussichtlich 82 Millionen Menschen in dem Land leben, etwa so viele wie heute in Deutschland. Die beiden Länder würden dann jeweils etwa 15 Prozent der EU-Bevölkerung stellen. Die Bevölkerungszahl eines Landes ist entscheidend für sein Gewicht in der EU: Laut EU-Verfassung wird künftig mit der so genannten doppelten Mehrheit abgestimmt. Entscheidungen können dann nur gefällt werden, wenn 55 Prozent der Mitglieder und zugleich 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung zustimmen. Angesichts von heute bereits rund 500 Millionen Menschen in der EU – und weiteren Beitrittskandidaten – halten manche Experten das Gewicht der Türkei aber auch dann nicht für zu groß.

Große Umfragemehrheit in türkischen Städten für EU-Beitritt

Bei einer Erhebung in 20 türkischen Städten haben sich drei Viertel der Befragten für eine baldige Aufnahme ihres Landes in die EU ausgesprochen, wie das Magazin „Stern“ am Mittwoch im Voraus berichtete. Fast die Hälfte der 1.326 befragten Türken gab an, sie würden dann gern in einem anderen EU-Land arbeiten.

19,8 Prozent sagten, sie wollten nach Deutschland gehen. Fast drei Viertel davon gaben an, sie würden gerne ihre Familie nach Deutschland mitbringen. Unberücksichtigt blieb dabei, dass es bei einem EU-Beitritt der Türkei lange Übergangsfristen geben würde, bevor die Einwohner des Landes berechtigt wären, sich innerhalb der EU einen Arbeitsplatz zu suchen.

Die Umfrage wurde im Auftrag des „Stern“ von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) vorgenommen. Den Angaben zufolge sprachen sich 75,9 Prozent der Befragten für einen baldigen EU-Beitritt der Türkei aus, 17,7 Prozent waren dagegen, die restlichen 6,4 Prozent machten keine Angaben. 73,8 Prozent erwarten von einem EU-Beitritt einen Modernisierungsschub für die Türkei.

60 Prozent der Befragten schätzen das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken als gut oder sehr gut ein, rund ein Viertel (26,8 Prozent) hält es für eher schlecht. Allerdings glauben nur 42 Prozent, dass die Deutschen die Türkei gern in der EU sähen. 38 Prozent meinten, die Deutschen seien dagegen.

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