Bei den wichtigen Problemen der Türkei gebe es keine nennenswerte Fortschritte, kritisierte der deutsche Diplomat bei seinem Abschied nach vier Jahren als EU-Botschafter in Ankara. Kretschmer ist nicht der einzige EU-Vertreter, der von der Türkei enttäuscht ist. Ein Jahr nach dem Beginn der türkischen EU-Beitrittsgespräche zieht auch die EU-Kommission in Brüssel eine vernichtende Zwischenbilanz. In Ankara bewege sich fast nichts mehr, beklagt die Kommission in ihrem Fortschrittsbericht, der kommende Woche offiziell vorgestellt wird. Über dem gesamten Prozess hängt zudem das Damokles-Schwert des Zypenkonflikts.
Durchgesickerte Einzelheiten des Kommissionsberichts lassen für die Türkei nichts Gutes erwarten. In den Knackpunkten der türkischen Bewerbung geht die Entwicklung eher rückwärts als vorwärts, wie Brüssel klarmacht. So mische sich die Armee trotz aller Reformgesetze der letzten Jahre weiter in die Politik ein. Dies berühre einen fundamentalen Punkt der Demokratie, formulierte Botschafter Kretschmer: Vom Primat der Politik ist die Türkei weit entfernt. Erst vor kurzem sagte Verteidigungsminister Vecdi Gönül, nach dem Nein der Armee zu einer Entsendung zusätzlicher türkischer Truppen nach Afghanistan habe er selbst das Thema erst gar nicht auf den Tisch bekommen.
Nicht nur die Generäle schaden der türkischen Europa-Bewerbung, stellt die Kommission in ihrem Bericht fest. Die rechtliche Lage der Christen sei nach wie vor schlecht; die Meinungsfreiheit werde durch das Festhalten am Türkentum-Gesetz 301 und nationalistische Kräfte in der Justiz so sehr eingeschränkt, dass ein Klima der Selbstzensur entstanden sei; eine konstruktive Politik Ankaras zur Beendigung des Kurdenkonflikts sei nicht zu erkennen. Hinzu kommt Kritik am häufig übertrieben gewalttätigen Vorgehen der Polizei gegen friedliche Demonstranten und an den Problemen der rund zwei Millionen Sinti und Roma in der Türkei.
Und dann auch noch Zypern. Ankara will die türkischen Häfen für Güter aus dem EU-Mitglied Zypern nicht öffnen, bevor die wirtschaftliche Isolierung des türkischen Inselteils aufgehoben wird, wie die EU dies 2004 versprochen hatte. Mit Verhandlungen unter der Regie der finnischen Ratspräsidentschaft soll in letzter Minute noch ein Ausweg gefunden werden. Zwei Tage vor Veröffentlichung des Kommissionsberichts am 8. November wollen die Finnen ein Paket schnüren, das zumindest für eine Übergangsfrist von zwei Jahren das Thema Zypern entschärfen soll. Gelingt dies nicht, muss der EU-Gipfel am 15. Dezember reagieren.
In Erwartung des schlechten Zeugnisses aus Brüssel versucht die Regierung in Ankara, ihr ramponiertes Reform-Image noch schnell ein wenig aufzupolieren. Außenminister Abdullah Gül begrüßte die finnische Zypern-Initiative. Regierungssprecher Cemil Cicek erklärte, unabhängig vom Inhalt des Fortschrittsberichtes bleibe das Ziel der EU-Mitgliedschaft ein zentraler Bestandteil türkischer Politik. Der Reformprozess gehe weiter. Das Parlament berät derzeit über ein neues Stiftungsgesetz, das vor allem den Christen zugute kommen soll. Vertreter der christlichen Minderheit halten das Gesetz jedoch für ungenügend.
Bis zu den türkischen Parlamentswahlen im November nächsten Jahres sind durchschlagende Erfolge an der Reformfront kaum noch zu erwarten. Es sei unwahrscheinlich, dass da substanziell noch viel kommen wird, sagt ein EU-Vertreter in der Türkei. Medienberichten zufolge denken einige EU-Länder über den Vorschlag nach, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bis nach den Wahlen auszusetzen. Sollte der Gipfel im Dezember tatsächlich einen solchen Beschluss fassen, könnte dies das Aus für den türkischen EU-Prozess bedeuten: Niemand weiß, ob die Verhandlungen nach einer solchen Unterbrechung jemals wieder in Gang kommen würden.