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EU-Reformvertrag in sieben Ländern von Parlamenten ratifiziert

Aller Voraussicht nach ist Irland das einzige Land in der Europäischen Union, in dem der Vertrag von Lissabon in einer Volksabstimmung genehmigt werden muss. Alle anderen EU-Staaten wollen das Vertragswerk, das die gescheiterte EU-Verfassung ersetzt, per Parlamentsbeschluss ratifizieren.

Bisher ist dies in sieben der 27 EU-Staaten erfolgt: In Ungarn, Slowenien, Frankreich, Malta, Bulgarien und Rumänien ist das Verfahren abgeschlossen. In Polen muss nach positiven Voten in Sejm und Senat noch Staatspräsident Lech Kaczynski das Regelwerk binnen drei Monaten unterzeichnen.

Ein Referendum ist in Irland laut der Verfassung vorgeschrieben. Regierung und Opposition haben sich auf den 12. Juni als wahrscheinliches Datum für die Volksabstimmung verständigt, endgültig beschlossen ist dies aber noch nicht. Der angekündigte Rücktritt von Ministerpräsident Bertie Ahern angesichts von Korruptionsvorwürfen könnte nach Ansicht von Beobachtern den Befürwortern des Vertrages Rückendeckung geben, da die Abstimmung in diesem Fall weniger zu einem Protestvotum gegen die Regierung genutzt werden kann. EU-Skeptiker aus ganz Europa wollen zu dem Referendum auf die grüne Insel reisen, um ihren Protest gegen steigenden “Zentralismus aus Brüssel” Ausdruck zu verleihen. Umfragen zufolge befürwortet eine Mehrheit der Iren den Vertrag von Lissabon, ein Drittel bis die Hälfte der Stimmberechtigten ist aber noch unentschlossen.

Eingeleitet wurde das Ratifikationsverfahren bisher auch in Belgien, Deutschland und Großbritannien. Als erste von sieben Volksvertretungen billigte in Belgien der Senat den EU-Vertrag. In Deutschland soll das parlamentarische Ratifizierungsverfahren von Bundestag und Bundesrat bis zum 23. Mai abgeschlossen sein. In Großbritannien setzte sich die Labour-Regierung von Premierminister Gordon Brown im Abgeordnetenhaus mit seiner Forderung nach einem Verzicht auf eine Volksabstimmung durch.

Noch im Frühjahr sollen Ratifizierungen des Vertrages von Lissabon durch die Parlamente in Österreich, Dänemark, Estland, Litauen, Lettland, Italien, Portugal und Griechenland über die Bühne gehen. Erst spät gegen Jahresende dürften Abstimmungen in Finnland, Schweden und Tschechien folgen. Bevor in Prag das Parlament über die Ratifizierung abstimmt, soll sich das tschechische Verfassungsgericht dazu äußern, ob der EU-Vertrag im Einklang mit dem tschechischen Grundgesetz steht.

Die wichtigsten Neuerungen

Der Vertrag von Lissabon (ursprünglich: “Reformvertrag”) spaltet Befürworter und Gegner der europäischen Integration. Tatsache ist, dass die EU mit dem Vertragswerk einen fast siebenjährigen Streit in der Europäischen Union um interne Reformen hinter sich bringt. Die Hauptinhalte der gescheiterten Verfassung wurden großteils gerettet, die europäischen Symbole und der Name “Verfassung” aber gestrichen. Um 2009 in Kraft zu treten, muss der Vertrag in allen EU-Staaten bis Jahresende ratifiziert werden. 20 Länder stehen noch aus. Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Neuerungen des Reformvertrages:

Permanenter EU-Ratspräsident: Anstatt der derzeit halbjährlich wechselnden EU-Ratsvorsitzenden – den Regierungs- oder Staatschefs des jeweiligen Vorsitzlandes – wird ab 2009 ein fixer für zweieinhalb Jahre gewählter Präsident den Vorsitz bei Europäischen Räten und bei Gipfeltreffen mit Drittstaaten führen. Der Posten soll von einem ehemaligen Regierungschef besetzt werden. Damit soll die EU eine kontinuierlichere Außenvertretung als bisher bekommen. In den jeweiligen EU-Fachministerräten bleibt der Vorsitz beim jeweiligen Präsidentschaftsland, die halbjährlich rotierenden Ratsvorsitze sollen sich aber in Trio-Präsidentschaften besser koordinieren.

“Hoher Vertreter” für die Außen- und Sicherheitspolitik: Dieser soll ab 2009 die bisherigen Doppelgleisigkeiten zwischen dem EU-Außenbeauftragten des Rates (derzeit Javier Solana) und dem EU-Außenkommissar (derzeit Benita Ferrero-Waldner) beenden. Der “Hohe Vertreter” wird in Personalunion Generalsekretär des Rates und Vizepräsident der Kommission sein. Der Name “EU-Außenminister” wurde auf Druck Großbritanniens fallen gelassen.

Verkleinerte EU-Kommission: Ab 2014 werden nur noch zwei Drittel der EU-Staaten Kommissare in Brüssel stellen, anstatt wie bisher alle. Um eine gleiche Vertretung aller zu garantieren, muss die EU noch ein Rotationssystem festlegen.

Grundrechtecharta: Mit Ausnahme Großbritanniens und Polens wird der Text der Charta rechtsverbindlich. Diese garantiert den EU-Bürgern eine Reihe von einklagbaren Rechten wie etwa das Recht auf Leben, den Schutz personenbezogener Daten, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Die Grundrechtecharta soll die Europäische Menschenrechtskonvention ergänzen.

Mehrheitsentscheidungen: Die nationale Vetomöglichkeit entfällt ab 2009 in der EU-Innen- und Justizpolitik. Großbritannien kann selbst entscheiden, ob es bei solchen Entscheidungen mitmacht oder nicht.

Stimmgewichtung: Ab 2014 wird grundsätzlich das System der “doppelten Mehrheit” gelten, wonach für einen Mehrheitsbeschluss mindestens 55 Prozent der EU-Staaten zustimmen müssen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Auf Wunsch eines Staates kann das derzeitige System auch bis 2017 verlängert werden. Für eine Sperrminorität sind künftig fünf statt bisher vier Staaten erforderlich. Bei knapper Verfehlung der Sperrminorität können Beschlüsse wie schon bisher aufgeschoben werden.

“Gelbe Karte”: Nationale Parlamente können künftig Gesetzesvorschläge der EU-Kommission leichter zurückweisen, wenn Kompetenzen der EU-Staaten missachtet werden. Die Kommission muss den Entwurf dann rechtfertigen.

Energie und Klimaschutz: Beide Bereiche werden als neue Themen in den EU-Vertrag aufgenommen. Eine allgemeine Klausel zu Energiesolidarität wurde auf Forderung von Polen und Litauen verankert.

Solidaritätsklausel: Bei Terrorangriffen und Naturkatastrophen versichern sich die EU-Staaten gegenseitigen Beistand. Die Union mobilisiert dazu “alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel”.

Sicherheits- und Verteidigungspolitik/Neutralität: Eine Beistandsverpflichtung im Fall eines Angriffs auf einen EU-Staat ist auch im Kapitel zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik festgeschrieben. Die anderen Staaten schulden dem angegriffenen Mitglied demnach “alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung” im Einklang mit dem Recht auf Selbstverteidigung laut UNO-Charta. In Hinblick auf die Vorbehalte neutraler EU-Staaten heißt es auch: “Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.” Weiters wird ausdrücklich betont, dass die NATO für die Mitgliedstaaten der Allianz das Fundament der gemeinsamen Verteidigung ist. Ziel bleibt aber laut EU-Vertrag die “schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat.” Die EU-Staaten verpflichten sich außerdem, “ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern”.

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