So habe die deutsche Kanzlerin und EU-Ratspräsidentin Angela Merkel dem Polens Staatspräsident Lech Kaczynski im Streit um die Stimmengewichtung eine Verlängerung des bisher geltenden Abstimmungsmodus bis 2014 angeboten, hieß es in Diplomatenkreisen. Der polnische Premier Jaroslaw Kaczynski sagte laut Reuters unterdessen in Warschau: Wenn es keine Einigung auf den Plan zum Abstimmungsverfahren gibt, könnten wir über andere Lösungen reden.
Merkel kam im Brüsseler Ratsgebäude zum Mittagessen mit den 26 anderen Staats- und Regierungschefs zusammen, um über die Ergebnisse ihrer Vier-Augen-Gespräche zu beraten. Erst am frühen Abend will die deutsche EU-Ratspräsidentschaft einen neuen Kompromisstext vorlegen, in welchem die Eckpunkte der Revision der EU-Verfassung für ein Mandat der Regierungskonferenz festgeschrieben sein sollen. Diplomaten zweifelten, dass der eine Aufschiebung des derzeitigen Abstimmungssystems nach dem Nizza-Vertrag bis 2014 von Polen akzeptiert würde. Nach polnischen Medienberichten verlangt Warschau eine Aufschiebung des derzeit geltenden Abstimmungsmodus bis 2020.
Warschau wird nach dem geltenden System gegenüber Berlin bevorzugt und lehnt das in der EU-Verfassung vorgesehene Prinzip der doppelte Mehrheit ab, wonach mindestens 55 Prozent der Staaten einem Beschluss zustimmen müssen, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren.
Dabei ruhen die Hoffnungen, Polen im Streit um den EU-Abstimmungsmodus zum Einlenken zu bewegen, auch auf einem Vorschlag des französischen Staatschefs Nicolas Sarkozy. Dieser hatte den so genannten Ioannina-Kompromiss ins Spiel gebracht, benannt nach einer Entscheidung der EU-Außenminister in Griechenland von 1994. Dieser sieht vor, dass eine EU-Mehrheitsentscheidung aufgeschoben werden kann, wenn die Sperrminorität knapp verfehlt wird. So könnte Polen von solch einer Formel profitieren, wenn sichergestellt werde, dass die großen EU-Staaten nicht automatisch EU-Beschlüsse blockieren könnten, sagte ein Diplomat.
Bundeskanzler Alfred Gusenbauer sagte vor Beginn der Beratungen am Freitag, er hoffe auf eine konstruktive Lösung. Ich glaube nicht, dass es irgendwem nützt, wenn man Zeit schindet und verzögert. Die Fakten lägen am Tisch und alle seien sich im Klaren darüber, dass man irgend was machen muss, damit Polen an Bord kommen könne, ohne dabei vom Punkt Null anzufangen. Absurd ist für Gusenbauer die am Donnerstag bekannt gewordene Forderung des polnischen Premiers Jaroslaw Kaczynski, die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges zum Argument für ein höheres Stimmgewicht des heutigen Polens innerhalb der EU anzurechnen.
Der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende bekräftigte die niederländische Forderung nach einer Stärkung der nationalen Parlamente, einem Schutz für öffentliche Dienstleistungen und der Verankerung der EU-Erweiterungskriterien in dem neuen EU-Reformvertrag. Inhaltlich sind die britischen Forderungen schwieriger, politisch die polnischen, sagte ein Diplomat. Über die von Großbritannien abgelehnte Grundrechtecharta sei am Freitag bisher nicht gesprochen worden, hieß es in Ratskreisen. Der scheidende britische Premier Tony Blair fordert vehement, dass die EU-Grundrechtecharta für sein Land nicht rechtsverbindlich wird, da es durch das in der Charta verankerte Streikrecht Auswirkungen auf seinen liberalen Arbeitsmarkt befürchtet.
Außenministerin Ursula Plassnik zeigte sich am Freitag am Rande des EU-Gipfels besorgt, dass bei den Verhandlungen auch grundsätzliche Themen wie die Verstärkung der gemeinsamen Außenpolitik wieder in Frage gestellt werde. Mir tut es leid und es beunruhigt mich, dass jetzt auch die Fundamente wieder in Frage gestellt werden, sagte Plassnik. Die 18 Mitgliedstaaten, die die Verfassung ratifiziert haben, darunter auch Österreich, hätten vielleicht zu viel Flexibilität gezeigt.