“Der Europäische Rat hat sich gerade über die Ernennung geeinigt”, teilte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy am Freitag beim EU-Gipfel in Brüssel mit. Draghi löst den Franzosen Jean-Claude Trichet zum 1. November an der Spitze der Zentralbank ab.
Zweiter Italiener im EZB-Direktorium muss gehen
In letzter Minute gab es noch Streit zwischen Frankreich und Italien um die prestigeträchtigen Posten im EZB-Direktorium: Italien hätte mit dem Einzug Draghis zwei der sechs Stellen besetzt, da die Amtszeit von Direktoriumsmitglied Lorenzo Bini Smaghi erst in zwei Jahren endet. Präsident Nicolas Sarkozy und Ministerpräsident Silvio Berlusconi hatten ausgemacht, dass Italien für einen Vertreter Frankreichs Platz machen würde. Bini Smaghi hatte sich zunächst geweigert zu gehen, solange er keinen alternativen Posten in Aussicht hatte. Am Freitag habe er sich gegenüber EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy aber zum Rückzug bereiterklärt, sagten EU-Diplomaten.
Frankreich besteht wie alle großen Länder darauf, in dem Spitzengremium dauerhaft vertreten zu sein. Nationale Interessen sollen bei der politisch unabhängigen Zentralbank eigentlich keine Rolle spielen. Doch nach einem ungeschriebenen Gesetz haben Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien einen Anspruch auf dauerhafte Vertretung an der EZB-Spitze. Auf den übrigen beiden Posten dürfen die Zentralbanker aus den kleineren Ländern rotieren. Über die Zinsen entscheiden alle 17 Euro-Staaten im EZB-Rat, dem die nationalen Notenbankpräsidenten neben den sechs Direktoriumsmitgliedern angehören.
Draghi ist Fachman für Geld- und Währungspolitik
Deutschland hatte lange Zeit im Rennen um die Nachfolge Trichets die Nase vorn, verlor mit dem Rückzug Axel Webers vom Amt des Bundesbankpräsidenten im April aber seinen Kandidaten. Der 63-jährige Römer Draghi ist Präsident der Banca d’Italia und gilt als ausgewiesener Fachmann für Geld- und Währungspolitik. Er hat sich bereits als Chef des von den G-20 eingesetzten Financial Stability Boards (FSB) einen Namen gemacht. Das Gremium soll die weltweiten Bemühungen um eine Reform der globalen Finanzmarktarchitektur bündeln. Draghi gilt im EZB-Rat als Zentrist: Er ist weder dem Lager der strikt an Geldwertstabilität orientierten “Falken” zuzuordnen, noch den im Zweifelsfall eher für eine lockere Zinspolitik eintretenden “Tauben”.
Draghi mit Verbindung zur Griechenland-Krise
Der designierte EZB-Chef hatte sich bei einer Anhörung im Europäischen Parlament allerdings kritische Fragen zu seiner Vergangenheit als Führungskraft der US-Investmentbank Goldman Sachs anhören müssen. Dem Geldhaus wird vorgeworfen, Griechenland beim Verschleiern des riesigen Haushaltsdefizits geholfen zu haben. Draghi beteuerte, mit diesen “Deals” nichts zu tun gehabt zu haben. Das Parlament hatte seine Ernennung dennoch unterstützt.
Mario Draghi: Weder Falke noch Taube
Notenbanker-Vogelkundler tun sich mit Mario Draghi schwer: In den üblichen Kategorien von Falken und Tauben – also sehr strikter oder eher nachlässiger Inflationsbekämpfer – lässt sich der Chef der italienischen Notenbank nur schwer fassen. Er gilt als Pragmatiker, was die Geldpolitik angeht. In seinen Reden und Interviews vermeidet Draghi klare Aussagen zur Zinspolitik, sondern spricht lieber über Wirtschaftspolitik oder die Stabilität des Bankensystems. Deutschen Sorgen vor einer allzu lockeren Geldpolitik tritt er so nicht entgegen – schürt sie aber auch nicht.
Fachlich gilt der 63-jährige Römer als exzellente Wahl für den EZB-Chefsessel. Der ehemalige Harvard-Professor hat Erfahrungen in der Regierung, bei der Finanzaufsicht, der Weltbank und in der Privatwirtschaft gesammelt. Damit kennt er alle Seiten der geldpolitischen Medaille. Während seiner Zeit im italienischen Finanzministerium arbeitete er an den Maastricht-Regeln mit und gilt seither als Wegbereiter Italiens in die Eurozone.
Zuletzt machte der Italiener als Chef des Finanzstabilitätsrats (FSB) auf sich aufmerksam – einem Gremium, das unter seiner Führung erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Er ist damit einer der Architekten einer künftigen Weltfinanzordnung. Derzeit arbeitet er daran, wie verhindert werden soll, dass weitere Finanzkonzerne mit Steuerzahler-Milliarden gerettet werden müssen – wie es in der Finanzkrise mit Bear Stearns, AIG, Lloyds TSB und einigen anderen der Fall war.
Zugutekommt Draghi bei dieser Aufgabe sein strukturiertes Vorgehen. Ein europäischer Zentralbanker bezeichnete ihn deswegen als ausgesprochen “unitalienisch”. “Er hat die Fähigkeit, Probleme analytisch anzugehen, die Probleme selbst anzusehen und nicht die Leute um die Probleme, eine Fähigkeit, die viele Politiker nicht haben.”
Als einziges Manko gilt seine Tätigkeit bei Goldman Sachs: Dem US-Geldhaus wird vorgeworfen, dem EU-Defizitsünder Griechenland beim Schönen seiner Haushaltszahlen geholfen zu haben. Draghi hat mehrfach betont, mit den Vorgängen um Griechenland nicht betraut gewesen zu sein. Der zweifache Vater hat das Geldhaus 2005 verlassen, um den Spitzenposten der italienischen Notenbank zu übernehmen. Ab November kann er seine Karriere auf dem Chefsessel der EZB krönen.
(APA/VOL)