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Enttäuschung in Bulgarien trotz aufgehobener Todesurteile

Seit Mai 2004, als in Libyen die Todesurteile gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und den palästinensischen Arzt verhängt wurden, mussten sie um ihr Leben bangen.

Nach einer zweifachen Bestätigung der Strafe und nach acht Jahren und fünf Monaten libyscher Haft wurden die Todesurteile am Dienstagabend in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Doch die Entscheidung löste keinen Jubel, sondern eher Enttäuschung bei den Familien und Anwälten der Frauen aus.

„Dieser Richterspruch ist weder angebracht noch gerecht“, kritisierte Hari Haralampiew die Entscheidung in einer ersten Reaktion aus Tripolis. Er ist der bulgarische Anwalt der Krankenschwestern und des Arztes. Damit sprach er vielen Bulgaren aus der Seele, die sich in den vergangenen Monaten mit verschiedensten Aktionen landesweit um die Freilassung der Beschuldigten bemüht hatten.

Noch am Abend versicherte der bulgarische Außenminister Iwajlo Kalfin, Sofia werde sich „schon am Mittwoch um die Rückführung bemühen“. Der Anwalt kommentierte die mögliche Heimkehr der Krankenschwestern mit den Worten: „In Libyen gehen die Dinge langsam und mühsam voran.“

„Es wäre normal gewesen, sie zu begnadigen“, sagte Marijan, der Sohn von Krankenschwester Kristijna. Durch die zuvor erzielte außergerichtliche Einigung habe Libyen „alles Mögliche erhalten“, fügte er hinzu. In der Tat war den Eltern von mehr als 400 an Aids erkrankten libyschen Kindern bereits vor dem Richterspruch jeweils eine Million Dollar (728.000 Euro) als Abfindung ausgezahlt worden. „Die Verwandten widmen sich dem großen Zählen von Geldscheinen“, kommentierte der private Sender bTV.

Auch der Mann von Kristijna, Sdrawko, zeigte sich enttäuscht. „Es fällt mir sehr schwer, zu sprechen“, klagte er. Er habe mit einer Begnadigung gerechnet, da die Krankenschwestern und der Arzt „doch unschuldig“ seien. Nicht nur er wusste, dass international anerkannte Aids-Experten wiederholt bewiesen hatten, dass die Aids-Epidemie in dem Kinderkrankenhaus in Bengasi nicht durch die Bulgarinnen, sondern durch mangelhafte Hygiene verursacht worden war. „Wenigstens schwebt der Tod nicht mehr über den Krankenschwestern“, sagte Sdrawko resigniert.

Trotz der komplizierten Rechtslage nach der Umwandlung der Todesurteile blieb Sohn Marijan zuversichtlich. „Ich hoffe, die Krankenschwestern werden bald am Flughafen ankommen“, sagte er.


Bulgarinnen entgehen der Hinrichtung – Gaddafi wahrt sein Gesicht

In Libyen wird nach der Umwandlung der Todesurteile gegen die bulgarischen Krankenschwestern und den Arzt in lebenslange Haftstrafen nun der Boden für ihre Ausreise bereitet. Ausdrücklich verwiesen libysche Medien am Mittwoch auf die Möglichkeiten, die ein Auslieferungsabkommen zwischen beiden Ländern aus den 80er Jahren bietet. Gleichzeitig sind die staatlichen Medien jedoch peinlichst bemüht, nicht den Eindruck zu erwecken, die von der libyschen Führung unter Staatschef Muammar al Gaddafi verbreitete Mär von den teuflischen Krankenschwestern, die absichtlich wehrlose Kinder mit dem Aids-Virus infizieren, sei eine Lüge gewesen. „Es ist keine Begnadigung“, betont die Zeitung „Libya al-Yom“.

Damit Gaddafi und die „unabhängigen libyschen Richter“ das Gesicht wahren können, nennt man die Bulgarinnen in Libyen immer noch „skrupellose Mörderinnen“. Die unter Vermittlung der Stiftung von Gaddafis Sohn Seif al-Islam erzielte Einigung zwischen den Familien der 460 Kinder, die Anfang der Woche jeweils eine Million US-Dollar erhalten hatten, wird der libyschen Öffentlichkeit als eine Art „Entschädigungsregelung“ nach dem alten arabischen Prinzip der „Blutgeld“-Zahlungen verkauft. „Blutgeld“ (arab. „Diya“) wird normalerweise von demjenigen, der einen anderen getötet hat, oder von dessen Familie an die Familie des Opfers gezahlt, die dann im Gegenzug auf die Vollstreckung der Strafe verzichtet. In Saudi-Arabien ist dieses Prinzip, das im Islam anerkannt wird, aber aus vor-islamischer Zeit stammt, gängige Praxis.

Für Gaddafi, der nicht Staatschef genannt werden will, und in seinem Land deshalb stets als „der Bruder Revolutionsführer“ betitelt wird, ist die nun gefundene Regelung günstig. Die Familien der infizierten Kinder in Benghazi wurden mit Geld besänftigt. Es gibt keine Debatte über die Schuld der libyschen Behörden an dem grausamen Schicksal der infizierten Kinder. Auch die Frage, weshalb die nach Ansicht westlicher Experten völlig zu Unrecht beschuldigten Bulgarinnen und der Palästinenser acht Jahre in libyscher Haft ausharren mussten, wo sie nach eigener Darstellung gefoltert wurden, wird unter den Tisch gekehrt.

Europäische Staaten beteiligen sich auch an den Behandlungskosten für die Kinder, die laut Einigung sowohl in Libyen als auch im Ausland medizinische Hilfe erhalten sollen. Und das nach der Einigung über die Entschädigung der Lockerbie-Opfer letzte verbleibende Hindernis für eine Normalisierung der Beziehungen Libyens zur Europäischen Union ist nun aus dem Weg geräumt. „Gestern wurde der Jahrhundertprozess offiziell abgeschlossen, der die libysche Öffentlichkeit Jahre lang beschäftigt und das Verhältnis Libyens zur westlichen Welt vergiftet hatte“, schreibt „Libya al-Yom“. Als Beweis dafür, dass nun eine neue Ära beginnt, verweist man auf den angekündigten Besuch des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy.

Wann die Bulgarinnen und der palästinensische Arzt, der inzwischen auch die bulgarische Staatsbürgerschaft hat, ausreisen können, ist noch nicht klar. Denn die Entscheidung des Richterrates und die nun noch zu überwindenden bürokratischen Hürden für die „Auslieferung“ an Bulgarien sind widersprüchlich und verschlungen – wie so vieles im Reich Gaddafis. Zwar lenkt Gaddafi seit 38 Jahren die Geschicke des arabischen Landes. Doch offiziell bekleidet der Revolutionsführer kein Amt. Auf seine Internetseite hat der für seine langen Reden und farbigen Gewänder bekannte Staatschefs Fotos gestellt, die ihn als Vorbeter und als Fußballer zeigen.

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