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Entrümpeln soll glücklich machen

Einfachheit wird Kult. Aussortieren, Entrümpeln - diese Schlagwörter stehen im Zentrum eines neuen Trends zur Einfachheit. Es gibt einen Boom von Lebenshilfe-Bibeln.

An einer Bushaltestelle trifft sich in der Früh oft eine Gruppe junger Frauen – ein munterer Haufen, der über Einkaufszüge, neue Schuhe oder angesagte Geschäfte plaudert. Neulich kursierte eine ganz andere Frage: „Was hast du gestern weggeworfen?“ Aussortieren, Entrümpeln – diese Schlagwörter stehen im Zentrum eines neuen Trends zur Einfachheit. Es gibt einen Boom von Lebenshilfe-Bibeln, die zum großen Aussortieren im Kleiderschrank, zu Ordnung auf dem Schreibtisch und im Bekanntenkreis raten.

In den USA widmen sich bereits mehrere Zeitschriften, etwa „Real Simple“, dem „Einfachheitskult“ („FAZ“). Alle versprechen das Gefühl von Übersicht in einer Welt, die ständig schneller und komplizierter zu werden scheint. Oder schlicht gesagt: Glück.

„Manchmal bekommen wir geradezu begeisterte Anrufe von Lesern, die uns sagen: „Das ist ein fantastisches Gefühl, wir sind im Entrümpelungsrausch““, berichtet der Einfach-Leben-Pfarrer Werner Tiki Küstenmacher, der mit Lothar J. Seiwert den deutschen Erfolgstitel „simplify your life“ (Frankfurt/2001) geschrieben hat. Nach Angaben des Campus Verlages verkaufte sich das Werk schon mehr als 100.000 Mal. In Bestseller-Listen steht es weit oben.

„Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags“ – so heißt ein anderes, fernöstlich geprägtes Trendbuch (Karen Kingston, Rowohlt Taschenbuch Verlag/2000) aus der Ecke der Einfachheitsapostel. Die Frauenzeitschrift „Amica“ wiederum präsentierte unlängst ein 60-seitiges „Special basics: Was im Leben zählt“ mit Tipps, die alles leichter und überschaubarer machen sollen. Darunter: ein Fitness-Programm mit nur einer Übung.

Etwas mehr Anstrengung fordert Küstenmacher schon. Er rät zum Ausmisten in sieben Schritten: Anfangen sollten die Leser mit dem „Entmüllen“ zu Hause und im Büro. Rund 10.000 Gegenstände besitze jeder im Durchschnitt. Da gelte es, durch Wegwerfen und Verschenken eine „Schneise zu schlagen“. Ein Jahr nicht getragene Kleidung: Weg! Stapel alter Zeitungen: Weg!

Nach dem materiellen „Ballast“ nimmt der evangelische Theologe den seelischen ins Visier. Aufräumen lasse sich auch bei den Kontakten zur Familie. Neben unverbindlichen Tipps tauchen auch höchst strittige Thesen auf, etwa dass Gerümpel in der Wohnung Dicksein fördere. Ein geordnetes Schlafzimmer soll außerdem das Liebesleben intensiver machen.

Dass sein Potpourri weder neu noch revolutionär ist, räumt der bayerische Autor offen ein. In den USA hatte Elaine St. James mit „In Einfachheit leben“ schon vor Jahren ein Zurückschrauben der Ansprüche als Anti-Stress-Programm propagiert. In Deutschland treffe sein Buch jetzt den Nerv der Zeit. Es sei eine „Best of“-Sammlung aus Hunderten von Lebenshilfe-Schmökern, sagt er. Radikalität – einst mit Askese oder Konsumverweigerung verbunden – ist ihm fremd. Sein Credo:
„Hauptsache, die Menschen haben das Erfolgsgefühl, etwas aktiv zu steuern.“

Mit den Themen Kontrolle und Übersicht werde ein Bedürfnis vieler Menschen angesprochen, ordnet der Schweizer Zukunftsforscher David Bosshart den Trend ein. Das Gros der Einfach-Leben-Ratgeber hält er zwar für „Schrott“, ihr Erfolg signalisiere aber eine Grundströmung:
Viele sähen sich von der Masse des Konsumangebots und komplizierter Technik vom Handy bis zum Auto „an die Wand gedrückt“. Hinzu komme der Eindruck, kaum Einfluss auf Politik und Wirtschaft zu haben, erläutert der Chef des Gottlieb Duttweiler Instituts in Zürich. Sieben, zehn oder 20 TV-Programme würden positiv beurteilt, spätestens bei 50 Kanälen verliere man aber die Übersicht, fühle sich “überschüttet“. Hier liege das Potenzial für „Einfacher, aber besser“-Angebote.

Andere Experten halten die neue Lehre vom Verzicht für eine der vielen Verkündigungen im Auf und Ab der Befindlichkeitswellen. „Solche Ideen existierten schon immer als Möglichkeiten des alltäglichen Ausdrucks“, sagt der Hannoveraner Soziologe und Wirtschaftspublizist Holger Rust („Das Anti-Trendbuch“; „Zurück zur Vernunft“). „In Zeiten, in denen wenig Geld da ist, haben Schlichtheitsappelle oft Konjunktur.“ Das Institut für Demoskopie Allensbach geht davon aus, dass solche Trends nur Mini-Gruppen betreffen und ihr Verhalten im Bevölkerungsschnitt nicht messbar sei. Das Deutsche Rote Kreuz allerdings hat etwas gemessen: eine „stetige leichte Zunahme“ der Kleiderspenden. Die sei aber nicht neu, sondern dauere schon sechs bis sieben Jahre an.

(S E R V I C E – Internet: Homepage Simplify-Beratungsdienst:
http://www.simplify.de; Homepage der US-Zeitschrift „Real Simple“:
http://www.realsimple.com; Homepage des Duttweiler Instituts:
http://www.gdi.ch)

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