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Ein Lehmann-Roman fast ohne Frank Lehmann - mit einem Schuss Wienerisch

Einmal geht's noch: Sven Regener schickt Frank Lehmann wieder ins Roman-Rennen
Einmal geht's noch: Sven Regener schickt Frank Lehmann wieder ins Roman-Rennen ©Galiani Verlag Berlin / Charlotte Goltermann
Spätestens seit dem Bestseller "Herr Lehmann" ist die Romanfigur Frank Lehmann wohl allseits bekannt. Weitere Bände rund um den sympathisch-schrulligen Berliner folgten. Nun liegt der jüngste Streich aus der Feder von Autor und Element of Crime-Sänger Sven Regener vor - VIENNA.at hat "Wiener Straße" für Sie gelesen.
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Spoiler und Enttäuschung vorneweg: Frank Lehmann, zum Handlungszeitpunkt von “Wiener Straße” Anfang 20, ist im neuen Sven Regener-Roman leider nur Randfigur, ein Protagonist von vielen. Dafür gibt es ein Wiedersehen mit anderen aus den Lehmann-Büchern bekannten Charakteren – wie etwa dem Künstler und besten Freund Herrn Lehmanns, Karl Schmidt, oder auch Erwin Kächele, dem Kneipenbesitzer und Arbeitgeber unseres Helden.

Sven Regeners “Herr Lehmann”-Romane – mit immer weniger Frank Lehmann

Wer die anderen Romane rund um Lehmann kennt, den wird hier auch die Chronologie der Bücher interessieren, da diese in ihrem Erscheinungsdatum nicht der Reihenfolge der geschilderten Ereignisse folgen. Während “Neue Vahr Süd” (2004) weiterhin den Auftakt der Reihe bildet, woran “Der kleine Bruder” (2008) nahtlos anschließt, reiht sich nunmehr “Wiener Straße” (2017) an dritter Stelle in dieser Abfolge ein. Der bekannteste und erfolgreichste Roman, “Herr Lehmann” (2001), steht nunmehr am chronologisch vierten Platz. “Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt” von 2013 spielt dagegen als letzter der Bände bereits in den Neunzigerjahren und lässt die Figur des Frank Lehmann – auch wenn über ihn gesprochen wird – endgültig außen vor.

Gekommen um zu bleiben

Wir erinnern uns: Am Ende von “Der kleine Bruder” befand sich Frank Lehmann gerade frisch in Westberlin, wo er seinen Bruder besuchen wollte, diesen jedoch nicht mehr antraf, und mehr oder weniger beschlossen hatte, zu bleiben. Unmittelbar an diesem Punkt der Handlung setzt “Wiener Straße” ein. Wir schreiben das Jahr 1980, es ist November, und ein Personengrüppchen rund um Lehmann erhält die Chance, in einem Haus direkt über Kächeles Lokal “Café Einfall” in der titelgebenden Wiener Straße in Kreuzberg eine WG zu beziehen. Mit dabei: Erwins “rebellische Berufsnichte” Chrissie sowie die beiden “Extremkünstler” Karl Schmidt und H. R. Ledigt.

“Das Ende war ja sehr attraktiv zum Weiterspinnen”, so Element of Crime-Frontmann Regener in einem Interview mit der APA über das neue Buch, “weil klar war, dass diese vier Freaks zwangsweise in eine Wohnung ziehen.” Anlass für die Gründung der Wohngemeinschaft bildet der Umstand, dass der Kneipenbesitzer in Kürze Vater wird und daher die vier nicht länger bei sich wohnen lassen kann und will. Dass er als Hausbesitzer – nicht zu verwechseln mit den Hausbesetzern, von denen auch nicht wenige in “Wiener Straße” vorkommen – zugleich einen unsympathischen Mieter aus der Wohnung über der Kneipe weghaben will, trifft sich da nur zu gut.

Chaos und Querelen – teils auf gut Wienerisch

Was folgt, sind launig dargebrachte Querelen rund um die notwendige Renovierung der Wohnung, künstlerische Eskapaden, die in einer Vernissage der “ArschArt-Galerie” gipfeln, sowie ein langes Hickhack darum, wer von den WG-Mitgliedern, die allesamt ohne Job, teils auch gänzlich ohne Beschäftigung sind, in Erwins Kneipe arbeiten “darf”. Das Rennen machen schließlich Frank Lehmann, der sich auch zum Putzen nicht zu schade ist, und Chrissie, die sich gegen den Willen ihres Onkels darin durchsetzt, hinterm Tresen stehen und bereits morgens Kaffee und – teils selbst gebackenen, teils verbrannten – Kuchen verkaufen zu dürfen.

Beim Lesen realisiert man schnell: Der Roman lebt, wie schon seine Vorgänger aus der Reihe, weniger von der Handlung als von der Sprache. Was aus dem Lehmann-Universum definitiv bleibt, ist Regeners Liebe zu schlagfertig dargebrachten Dialogen, zu Dialekten und Mundart aller Art. War es in der Vergangenheit und ist es auch diesmal wieder das Berlinern, das er seinen Figuren in den Mund legte, so kommt diesmal als Novität das Wienerische hinzu. Es wimmelt vor “Kiberern” und dem Appell, jemand möge doch “die Pappn halten”. Zustande kommt dies, weil unter den Punks, Hausbesetzern und Aktivisten, die den Roman bevölkern, auch österreichische Aktionskünstler sind, die sich mehr oder weniger inkognito, weil “illegal” in Berlin befinden.

Anmerkung am Rande: Wer Gelegenheit bekommt, Sven Regener seine Texte live lesen bzw. performen zu sehen, wie er es zu Jahresende im Wiener Rabenhof getan hat, sollte sich diese keinesfalls entgehen lassen. Höchst unterhaltsame Stunden sind einem gewiss. Auch die Hörbücher zu den Romanen, vom Autor selbst eingelesen, erhöhen den Textgenuss um ein vielfaches.

Von Kettensägen, Kontaktbereichsbeamten und Kunstmarktscheiß

Weitere Zutaten, die “Wiener Straße” auflockern, sind eine Kettensäge, die schon beim Kauf im Baumarkt in mehr als einer Hinsicht für Wirbel sorgt, der Besuch eines Fernsehteams bei nicht wenig mediengeilen Hausbesetzern, ein “Kontaktbereichsbeamter”, der durch sein Verhalten die Skurrilitäten aufzeigt, die in der Zeit vor dem Mauerfall an der Tagesordnung standen, sowie ein “Mitfühlbauch”, den Erwin Kächele nach dem Besuch eines Eltern-Vorbereitungskurses mit sich herumträgt, um sich in seine schwangere Freundin einfühlen zu können.

“Man muss die Romane schreiben, wie man sie als Idee in den Kopf bekommt,” äußerte Regener dazu im APA-Interview – und lässt erahnen, aus welch reichem Sammelsurium er in dieser Hinsicht in den Jahrzehnten seines Schaffens zu schöpfen hat. Doch darum geht es dem vielseitigen Kreativen gar nicht so sehr – das Buch drehe sich ihm zufolge vielmehr um den “Kampf um die Kunst”, der zu dieser Zeit in Berlin angefangen habe und rasch zentral geworden sei. So durchziehen denn auch philosophisch anmutende Fragen rund um den Kunstbegriff – was ist Kunst, was Kommerz bzw. “Kunstmarktscheiß” – den Roman. (“Das war da drin?” fragte Frank ungläubig. “Eine Flasche Bier? Das soll Kunst sein?”)

Hierin sieht Regener die Österreicher ebenfalls am Zug – diese hätten “ein anderes, liebevolleres Verhältnis zu Kunst als die Deutschen”, gibt er sich im APA-Interview überzeugt. “Vieles, was die Kunst betrifft, muss man in Österreich nicht erklären, weil es intuitiv verstanden und nicht nur als Vehikel für etwas anderes gesehen wird. In Deutschland ist es leider sehr verbreitet, Kunst als Mittel zum Zweck zu sehen.”

Frisch entdeckt: Die Liebe zum Hinterm-Tresen-Stehen

Das vielleicht wichtigste Moment in der Entwicklung Frank Lehmanns, dem wir im Zuge der Romanhandlung beiwohnen dürfen, ist seine Entdeckung der Leidenschaft für das Ausschenken von Alkoholika an durstige Menschen. Eine Leidenschaft, über die er sich in “Herr Lehmann” stark selbst definieren und die er in dem Roman entschieden gegen all jene verteidigen wird, die meinen, lediglich in einer Kneipe hinterm Tresen zu stehen, ohne “eigentlich doch noch ganz was anderes zu machen”, könne ja kein “Lebensinhalt” sein. In “Wiener Straße” wird der Grundstein für Lehmanns Passion gelegt, als er bei einer Vernissage unter dem Motto “Haut der Stadt” erstmals Gelegenheit bekommt, billigen Wein an Besucher auszuschenken, die nach diesem Schlange stehen, und in dieser Aufgabe vollkommen aufgeht: “Er goss einen Becher mit Rotwein voll, er fühlte sich seit der Weinprobe beschwingt und gut gelaunt und bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Egal, was Erwin sagte, der Weinverkaufsjob gefiel ihm.”

Einen gewissen Hang zum Infantilen kann man Sven Regener (56) in diesem Buch übrigens nicht absprechen. Wer Romanfiguren Namen wie “P.Immel” und “Kacki” verpasst, nimmt es mit der Ernsthaftigkeit offenbar nicht übergenau. Glücklicherweise vermag dies die Lesefreude bei “Wiener Straße” nicht zu trüben.

Nach diesem nun also vierten Roman, der sich mehr oder weniger um Frank Lehmann dreht – was soll da als Nächstes kommen? Neun Jahre wären zu überbrücken, bis die Handlung mit “Herr Lehmann” fortgesetzt wird. Ob Sven Regener nun auch diese Zwischenzeit noch lückenlos in Form weiterer Romane nacherzählen wird, bleibt abzuwarten. Seine nicht eben kleine Fangemeinde würde es ihm jedenfalls danken.

Sven Regener: “Wiener Straße”. Galiani Verlag, Berlin, 304 Seiten, 22,70 Euro.
Hörbuch: Ungekürzte Ausgabe, 5 CDs, Verlag Tacheles, 364 Minuten, 28,99 Euro

 

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