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Ein Jahr nach Moskauer Geiseldrama

Für Hinterbliebene wie Tatjana Karpowa hat die Zeit nach der blutigen Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater "Nord-Ost" keine Wunden geheilt.

„Selbst ein Jahr später lässt der Schmerz nicht nach“, klagt die Mutter. Als tschetschenische Terroristen am 23. Oktober 2002 die Aufführung stürmten, war ihr Sohn Alexander mit unter den mehr als 800 Geiseln. Der 32-Jährige überlebte das Drama nicht. Er starb – wie die meisten der insgesamt 129 getöteten Geiseln – an den Folgen eines von den Spezialeinheiten bei der Erstürmung verwendeten Betäubungsgases.

Über 58 Stunden lang hielt das Geiseldrama die Stadt Moskau, das Riesenreich Russland und die ganze Welt in Atem. Die mit Sprengstoffgürteln bewaffneten Terroristen, 41 Männer und Frauen, forderten ein Ende des Krieges in Tschetschenien und den Abzug der russischen Truppen. Der Kreml bleibt hart. Am Morgen des 26. Oktober stürmen Spezialkräfte das Gebäude und beenden die Geiselnahme mit Gewalt.

Bis heute stehen viele Fragezeichen hinter dem Einsatz der Polizei, den Fehlern bei der ärztlichen Versorgung sowie der Verantwortung für den Tod der Geiseln und aller Terroristen. Hinterbliebene beklagen, dass die Krankenhäuser nicht auf die Aufnahme hunderter mit Gas vergifteter Menschen vorbereitet gewesen seien. Dutzende Geiseln starben, weil sie nicht rechtzeitig behandelt wurden. Verzweifelte Angehörige irrten über Tage zwischen Krankenhäusern, Notaufnahmen und Leichenhallen umher, weil niemand über den Verbleib ihrer Liebsten Auskunft geben konnte.

Der Kreml feierte die gewaltsame Beendigung des Geiseldramas damals als Erfolg. Immerhin waren Hunderte von Menschen aus der Gewalt der Terroristen befreit worden. Mit den Geiselnehmern hatte man noch am Tatort kurzen Prozess gemacht.

Die Hinterbliebenen der Opfer haben die Kehrseite des harten Durchgreifens erfahren. „Für den Staat sind wir keine Menschen, sondern nur eine graue Masse“, sagt Tatjana Karpowa heute. Sie will die Interessen aller Betroffenen in einem Verein bündeln. Schadensersatzansprüche an die Stadt Moskau wurden fast ausnahmslos abgewiesen.

Mit dem Geiseldrama an der Dubrowka wurde der Krieg von Tschetschenien nach Moskau getragen. Es blieb nicht die einzige Bluttat in der Hauptstadt. Im Juli sprengten sich zwei Selbstmord- Attentäterin auf einem Moskauer Rockfestival in die Luft und töteten 14 Besucher. Seitdem sind die Sicherheitskontrollen in der Hauptstadt noch rigoroser. Der Rote Platz, die wichtigste Touristenattraktion des Landes, wurde im Sommer über Wochen aus Angst vor weiteren Anschlägen gesperrt.

In der seit einem Jahrzehnt von Krieg und Terror heimgesuchten Teilrepublik Tschetschenien bleibt die Lage bis heute angespannt. In den Bergen verschanzte Rebellen führen einen Partisanenkampf gegen die russischen Truppen. Auf Anweisung aus Moskau wurde Anfang des Monats ein neuer Präsident Tschetscheniens gewählt, doch an einem Ende der Gewalt und der Willkür in dem Konfliktgebiet zweifeln viele.

Die Geiselnahme leitete auch das Sterben des bis dahin äußerst beliebten und ständig ausverkauften Musicals „Nord-Ost“ ein. Das Spektakel musste im Mai den Betrieb einstellen, obwohl die Spielstätte zuvor komplett renoviert worden war. „Die Leute fürchten sich, diesen Saal zu betreten“, sagte der Direktor Georgi Wassiljew mit Bedauern. In seinen letzten Wochen war das Musical über eine Flieger-Romanze noch mit dem wichtigsten russischen Theaterpreis ausgezeichnet worden.

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