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Doktor des Todes: 215 ermordete Patienten

Dr. Harold Shipman, Arzt in der Nähe von Manchester, hat mindestens 215 seiner Patienten mit Morphiumspritzen umgebracht, vermutlich deutlich mehr. Serienmörder

Ein weißer Vollbart, freundliche Augen hinter einer runden Brille, joviales Gehabe: So wurde Dr. Harold Shipman (56) zum Vertrauten seiner rund 3.000 Patienten in der Nähe von Manchester, ein überaus geschätztes Mitglied der Gesellschaft. Mindestens 215 seiner Patienten hat er mit Morphiumspritzen umgebracht, vermutlich deutlich mehr.

Wie er zu einem der schlimmsten Serienmörder aller Zeiten wurde, wusste auch Richterin Janet Smith vom Londoner High Court nicht zu sagen, als sie einen 2.000 Seiten starken Bericht über den Mann vorlegte, der in den britischen Medien schon seit langem nur „Dr. Death“, Doktor des Todes, genannt wird.

„Es tut mir Leid, ich bin da noch nicht zu einer eindeutigen Meinung gekommen“, sagte Smith. 1975 war Shipman vor ein Standesgericht zitiert worden, weil er süchtig nach dem Schmerzmittel Pethidin war. Er wurde zu 600 Pfund Geldstrafe verurteilt, durfte aber von 1977 an wieder als Hausarzt praktizieren. Smith: „Was immer Shipman damals süchtig nach dem Schmerzmittel machte, hat ihn möglicherweise auch süchtig nach anderem gemacht. Es ist möglich, dass er süchtig nach Mord war.“

Im Jänner 2000 war Shipman wegen Mordes in 15 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Danach brachen die Dämme:
Hunderte von Angehörigen anderer gestorbener Shipman-Patienten verlangten Aufklärung über das Schicksal ihrer Lieben. Weil Großbritannien bisher noch nie einen Mordfall dieser Größenordnung hatte und weil die 15 Verurteilungen ausreichen, um Shipman zeitlebens hinter Gittern zu halten, entschloss man sich zu einer richterlichen Untersuchung – zur Feststellung des Sachverhaltes. Noch einmal vor Gericht muss „Dr. Death“ nicht.

„Jeder, der diesen Bericht liest, muss von der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen schockiert sein“, sagte Smith. „Shipman hat das Vertrauen seiner Patienten in einer unvorstellbaren Weise missbraucht, die einmalig in der Geschichte ist.“ Sie kündigte an, demnächst Vorschläge zu machen, um eine Wiederholung solcher Vorfälle zu verhindern. Denn 27 Jahre lang hat niemand etwas gemerkt, Shipman bunkerte daheim genug Morphium, um 360 Menschen zu töten.

Von den 215 Morden entfallen 171 auf ältere und häufig allein stehende Damen: Shipman wusste, dass es da selten Nachfragen gab, wenn er „Herzversagen“ oder „altersbedingt“ auf den Totenschein schrieb. Außerdem gibt es „starken Mordverdacht“ in 45 weiteren Fällen, aber keinen Beweis.

„Ich glaube, er hielt sich für Gott“, sagte Angela Woodruff einmal. Sie, eine erfahrene Anwältin, hatte die Ermittlungen gegen Shipman in Gang gebracht, als nach dem Tod ihrer Mutter Kathleen Grundy (81) plötzlich ein schlecht gefälschtes Testament auftauchte, von dem der Arzt profitieren sollte. Richterin Smith hat ihre eigene Theorie: Der hochintelligente Shipman habe möglicherweise gar nicht das Geld haben wollen, denn das sei vorher nie ein Motiv gewesen.

„Er musste wissen, dass eine Entdeckung unvermeidlich war, als die Anwältin das gefälschte Testament in die Hand bekam. Man kann der Vermutung kaum widerstehen, dass er die Aufmerksamkeit auf sich und seine Taten lenken wollte.“ Denn: „Vielleicht wusste er, dass er selbst nicht mehr mit dem Morden aufhören konnte.“

Als hochfahrend und arrogant galt Shipman schon während des Medizin-Studiums, ein Egomane, der stets der Beste sein wollte. Als „manipulatives Individuum“ beschreibt ihn Detective Superintendent Bernard Postles: „Er versuchte immer, das Verhör zu kontrollieren. Er war ganz sicher, alles erklären zu können, weil die Polizisten ja nicht so intelligent sind wie er.“ Sein Kollege Mike Williams fügt hinzu: „Für ihn war das eine Art Spiel.“

War es ein gestörtes Verhältnis zu Frauen, seit seine Mutter im Alter von 43 Jahren an Krebs starb und damals viele Morphiumspritzen bekam? Gab es, wie der Psychologe Richard Badcock vermutet, „tief in ihm etwas, was er zu lösen versuchte, eine ihm selbst unbekannte Angst“? Vielleicht wird man es nie wissen. Der Doktor des Todes sitzt in seiner Zelle und schweigt. Als Reporter am Freitag an der Wohnung seiner Frau Primrose klingeln, schlägt sie die Tür sofort zu. Sie ist nach wie vor überzeugt, dass Harold Shipman schuldlos ist.

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