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Die wahren Cinderellas

Misshapes sind die Schokoladen, die es nicht in die elegante Box geschafft haben, bei uns als "Bruch" bekannt. Jarvis Cocker von Pulp hat ein Lied darüber geschrieben. New York City hat diesem Thema sogar einen Club gewidmet. - Und MTV einen schrillen Bildband.

Am Eingang kommt mir eine halb nackte Frau mit langen fettigen Haaren und Schnurrbart entgegen, die sich später als die Fotosängerin der Band Cocorosie herausstellt. Der Türsteher gleicht der transsexuellen Version von Mickey Mouse. Ich fühle mich mit meinem violetten Ganzkörper-Gummianzug mehr als underdressed. Wir schreiben das Jahr 2004. Ich befinde mich im beliebtesten Club von N. Y. C. namens “Misshapes”. Ganz klar, dass man hier mit anderen Mitteln auf sich aufmerksam macht. Ich begebe mich in die Beobachtende und genieße die Pasivität.

Während ein Typ mit einem überdimensionalen “Hello Tokyo”-Schild, das er konsequent vor seiner nackten Brust trägt – sonst ist er nur mit einer neon-pinken Badeshort bekleidet, in Begleitung eines Mädchens, das als Riesenmasche verkleidet ist, an mir vorbeigeht, werde ich von einem Typ, der “Tweety the bird” als Kopfbedeckung trägt, zum Tanzen aufgefordert. Ich bin mehr als entzückt. In diesem Moment habe ich entschlossen, nach N. Y. C. zu ziehen und nie wieder zu schlafen. Die Luft ist elektrisch geladen. Die Stimmung sexy. Die Menschen sind genderlos. Die Atmosphäre untereinander ist freundlich, offen und ausgelassen. Wer drin ist, ist mit dabei. Ins “Misshapes” reinzukommen ist allerdings alles andere als leicht. Ich hatte wie immer Glück. Die Location ist gerade mal für zweihundert Leute gedacht. Rein wollen mindestens fünfhundert.

Damals fand “Misshapes” noch im “Luke & Leroy” statt, ironischerweise dem Club, in dem mein Freund Christopher Just und ich jetzt unsere monatliche Partyreihe “BOB” veranstalten. Das “Luke & Leroy” war ein stadtbekannter Schwulenclub mitten im Herzen Downtowns, genau genommen im überaus charmanten Viertle Greenwich Village. In den Neunzigern noch sehr gefährlich, später superschwul und mittlerweile eine Mischung aus Touristen, Kleinfamilien und dem, was noch von früher übrig ist. Sarah Jessica Parker wohnte z. B. da. Später ist dann “Misshapes” ins “Don Hill” gezogen. Das “Don Hill” ist mittlerweile für schlechte Partys bekannt und das “Luke & Leroy” hat vor sieben Monaten neu eröffnet und heißt jetzt “Le Royale”. Neben Christopher Just und mir treiben noch andere umtriebige Partyveranstalter dort ihr Unwesen. Justice, Arthur Backer, Chicks on Speed sowie Soulwax geben hier Konzerte sowie Richie Rich vom Modelabel “Heatherette”, der nun auch zum Mikrofon gegriffen hat. Und viele New Yorker Bands, Musiker, Performance-Künstler und DJs. Kate Moss zählt das “Le Royale” zu einem ihrer Lieblingsclubs.

Im “Misshapes” waren nie die DJs und Bands die Stars, sondern die Gäste, und das haben alle schnell begriffen. Jeder gab seine eigene kleine Performance und wollte herausragen. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Charlie Chaplin meets Divine – Alice im Wunderland Edward mit den Scherenhänden. Debbie Harry von Blondie , Yoko Ono, Agyness Deyn, Sienna Miller, Selma Blair, Hillary Duff und Kelly Osbourne waren Stammgäste. Madonna klemmte sich 2005 hinters DJ-Pult für Promotionzwecke, um sich vor der coolsten Crowd New Yorks zu präsentieren. Kelis, M. I. A., Uffie, Le Tigre, Klaxons, Bloc Party, Yeah Yeah Yeahs, Arcade Fire, My Chemical Romance sowie viele, viele andere performten dort für einen Hungerlohn – um einfach nur dabei zu sein.

Ein Redakteur des “W-Magazine” hat mal geschrieben: “Misshapes’ ist der beste Platz, um von hetero auf bi umzusteigen.” Und Sally Singer von der “Vogue” beschreibt die Atmosphäre so: “Irgendwann um Mitternacht, wenn irgendwelche Prinzessinen realisiert haben, dass ihre schicken Autos in Wirklichkeit nur Kürbisse sind, und zu Bett gehen, wühlen genau in dem Moment, irgendwo in Downtown, die wahren Cinderellas in ihrem Kleiderkasten, um das richtige Outfit für den Abend zu finden, für ihren Abend zu finden, der gerade erst begonnen hat.” Das Schöne an New York ist, dass es eine große Bühne ist, mit unendlich vielen Schauspielern. Guten Schauspielern, die gerne aus der Reserve gelockt werden und bei behutsamer Behandlung auch ihr wahres Gesicht zeigen. Bietet man ihnen eine Plattform, ist der Output enorm.


Tipp:
Geordon Nicol zeigt auf 288 Seiten über 500 Porträts von außergewöhnlichen und individuellen Stilikonen der Jetztzeit – Downtown-New-York-Kids, Künstler, Modeliebhaber, DJs. Sie alle sind Besucher des Clubs und definieren sich durch ihren eigenen und einzigartigen Stil. Das Erstaunliche: KeineR von ihnen wirkt gekünstelt oder gestellt – ja, man könnte sagen: Niemand sieht wie eine Karikatur seiner selbst aus. Jeder wirkt authentisch cool – wie jemand, den man gerne näher kennen lernen möchte. Der Bildband ist eine Inspirationsquelle. Beim Durchblättern entdeckt man jedes Mal aufs Neue fabelhafte, ausgefallene, fantasievolle und faszinierende Details, die Lust machen, sich selbst neu zu entdecken. “Misshapes” – ein Konglomerat an authentischen Porträts über Leute, die Spaß haben.

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