Zuerst geht es über einen Damm, vorbei an geduckten, einstöckigen Hütten. Hinter einem kleinen See beginnt die Plattenbausiedlung, die ersten Fördertürme der Kohlegruben zeigen sich am Horizont. Hier steigt Halina Grigorewnja ein, eine 73-jährige Pensionistin mit buntem Kopftuch. Die Prospekte im Hochglanzdruck, die sie verteilt, gehen weg wie warme Semmeln. Dabei handelt es sich nicht um Werbung, sondern um ein Gebet an den Erzengel Michael – ein Gebet für den Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch.
Der inzwischen beurlaubte Ministerpräsident Janukowitsch sei ein orthodoxer Christ, meint Halina Grigorewnja. Sein Opponent, der Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko dagegen, ein Handlanger des Satans. Dieses Pack in Kiew, diese Anhänger von Juschtschenko, die wollen uns zu Grunde richten und an Amerika verkaufen, sagt sie. Mit der immer gleichen Formel Beten Sie, beten Sie für unseren Präsidenten reicht sie den Passagieren ihr Flugblatt, das von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche gedruckt wurde, die dem Patriarchen in Moskau untersteht. Nicht alle Fahrgäste sehen es gerne, dass ein Ausländer Halina Grigorewnja anspricht. Was wollen Sie hier? Gehen Sie doch zurück in Ihr Amerika, sagt eine ältere Dame aus der Sitzreihe gegenüber.
Die Präsidentenwahl in der Ukraine, die am Sonntag in die dritte Runde geht, hat das Land zutiefst gespalten. In Donezk, wie in der ganzen Ostukraine, stimmte auch – abgesehen von Wahlfälschungen – die Mehrheit für den Regierungskandidaten. Als Janukwitsch Gouverneur in Donezk war, habe er geschlossene Bergwerke wieder eröffnet und die Löhne erhöht, sagen die Leute hier. Sie fühlen sich betrogen um den Wahlsieg ihres Kandidaten, den die Zentrale Wahlkommission ja bereits verkündet hatte. Als der Oberste Gerichtshof der Ukraine die Wahl für ungültig erklärte, wandte sich Janukowitsch an seine Wähler im Osten. Er ermunterte die Gouverneure, der Opposition mit der Spaltung des Landes zu drohen. Die Gouverneure haben ihre Drohung inzwischen zurückgenommen, aber die Diskussion fiel in Donezk auf fruchtbaren Boden.
Die Siedlung Proletarische Region ist arm. Vor den schmutzigen Wohnblocks stehen nur vereinzelt Autos, meist alte Fahrzeuge der Marken Moskwitsch und Lada. Der Regen hat die Wege zwischen den Häusern in Schlamm verwandelt. An vielen Stellen kommt Dampf aus der Erde von den undichten Warmwasserleitungen, die dort verlaufen. Nur ein nagelneuer Fußballplatz mit Kunstrasen sticht heraus. Eine Gruppe von 14-Jährigen sitzt auf dem Holzzaun, schaut dem Spiel zu und raucht. Für den kleinen Dima ist Viktor Janukowitsch ein Held. Er hat uns diesen Fußballplatz geschenkt, sagt Dima. Juschtschenko dagegen sei ein Nationalist, der die Russischsprachigen im Osten der Ukraine nicht möge. Er werde alle Bergwerke schließen. Woher Dima das weiß? Aus dem Fernsehen und aus der Schule.
Die Proletarische Region hat auch einen Markt. An den kleinen Ständen gibt es nicht nur Nudeln und Gemüse, sondern auch Haushaltswaren und Kleidung. Die Stimmung hier ist schlecht derzeit. Die Preise seien gestiegen, sagen die Leute, wegen der politischen Krise, wegen der Demonstrationen in Kiew. Als ein Besucher trotzdem für den Oppositionskandidaten Partei ergreift, fallen ihm die Umstehenden ins Wort. Bis sogar der Leiter des Marktes, Ilja Petrowitsch aus seinem Büro kommt und ein Machtwort spricht. Die so genannte Revolution in Kiew – das ist nichts anderes als ein Staatsstreich, poltert er. Und droht: Unsere Bergarbeiter sind geduldig. Aber wenn die auf die Straße gehen, dann Gnade uns Gott.
Die fast einhellige Meinung unter den Marktbesuchern: Die Demonstranten in Kiew seien arme Westukrainer, die für ihre Proteste 25 Dollar (18,6 Euro) pro Tag bekämen. Das Geld dafür stamme aus Amerika. Sie geben damit genau die Informationen wieder, die sie im regionalen Fernsehsender TRK Ukraina bekommen. Der Sender gehört Rinat Achmetow, dem reichsten Mann des Landes und eigentlichen Herren im Donezk-Becken. Außerdem: Selbst wenn die Wahl ein bisschen gefälscht wurde – das Donezk-Becken zahle die meisten Steuern in den Staatshaushalt, der Westen habe eigentlich nichts zu sagen. Einen Präsidenten Juschtschenko wollen die Menschen in der Proletarischen Region jedenfalls nicht hinnehmen. Dann spalten wir uns ab. Auf Knien werden wir zu Putin kriechen, damit er uns aufnimmt, sagt Lena, die 26-jährige Frau eines Bergarbeiters.
Abends versammelt sich am Lenin-Denkmal in der Donezker Innenstadt ein kleines Häufchen von Gläubigen, die nicht der orthodoxen Kirche angehören. Sie beten für die Einheit der Ukraine. Nicht alle in Donezk hätten Janukowitsch gewählt, sagt Dimitrij, ein Programmierer. Die 96 Prozent für den Regierungskandidaten seien nur durch Fälschungen zu Stande gekommen. Und dennoch: Die Saat der Propaganda ist bei vielen Menschen der Region aufgegangen. Juschtschenko, der am Sonntag voraussichtlich zum Präsidenten gewählt wird, wird hier sehr lange um Anerkennung kämpfen müssen.