Die Ukraine reprivatisiert die Wirtschaft
Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko kündigte am Wochenende an, die Privatisierung des größten ukrainischen Stahlwerks Kryworoschstal im südostukrainischen Krywyj Rig rückgängig zu machen. Das Werk war vergangenen Sommer an ein Konsortium verkauft worden, das die beiden so genannten Oligarchen Rinat Achmetow aus Donezk und Wiktor Pintschuk, der Schwiegersohn von Ex-Präsident Leonid Kutschma, gegründet hatten. Die ukrainische Regierung hofft, durch eine erneute Privatisierung von Kryworoschstal deutlich höhere Einnahmen zu erzielen.
Julia Tymoschenkos größte Aufgabe ist es, darin sind sich fast alle Experten einig, die Staatseinnahmen zu erhöhen. Nur so kann sie das umfangreiche Sozialprogramm finanzieren, das Präsident Viktor Juschtschenko im Wahlkampf versprach. So soll der Mindestlohn von bisher 264 Hrywnja auf 426 Hrywnja (58,80 Euro) steigen, die Mindestpension von 284 auf 332 Hrywnja. Der staatliche Zuschuss zur Pensionskasse wird heuer deshalb auf über 12 Mrd. Hrywnja anwachsen. Die Vorgängerregierung hatte den heurigen Haushalt mit einem Defizit von 8,6 Mrd. Hrywnja veranschlagt und schon dadurch die Kritik des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf sich gezogen. Tatsächlich aber lägen die Ausgaben heuer um mindestens 18 Mrd. Hrywnja über den Einnahmen, erklärte Julia Tymoschenko. Um der Ukraine den Beitritt zum IWF zu ermöglichen, wolle sie innerhalb eines Monats einen neuen, ausgeglichenen Haushalt vorlegen.
Die erneute Privatisierung von Kryworoschstal, so hofft die Regierung, könnte einen Teil des Budgetlochs stopfen. Die Gesellschaft Investitionsbündnis Metallurgie (IMS), die zu 56,25 Prozent Achmetows System Capital Management und zu 43,75 Prozent Pintschuks Interpajp gehört, kauften das Unternehmen im vergangenen Juni für 4,26 Mrd. Hrywnja (588 Mio. Euro). Inoffiziellen Informationen zufolge war die russischen Gesellschaft Sewerstal bereit, etwa doppelt so viel zu bezahlen. Auch ein Konsortium von LNM und US Steel sowie die indische TATA Steel sollen ihr Interesse bekundet haben. Das vergangene Jahr dürfte den Wert von Kryworoschstal noch erhöht haben. Der Reingewinn stieg 2004 um knapp 30 Prozent auf 1,86 Mrd. Hrywnja – das beste Ergebnis seit zehn Jahren, wie die Unternehmenssprecherin vor kurzem erklärte. Die Einnahmen stiegen um ein Drittel auf rund 10 Mrd. Hrywnja. Die Kapazitäten von Kryworoschstal erlauben nach Unternehmensangaben einen jährlichen Ausstoß von 6 Mio. Tonnen Walzgut, etwa 7 Mio. Tonnen Stahl und 7,8 Mio. Tonnen Roheisen.
Kryworoschstal wird voraussichtlich nicht das einzige Unternehmen bleiben, das die ukrainische Regierung reprivatisieren möchte. Oleh Soski, Direktor des Kiewer Instituts für Gesellschaftstransformation, nennt in diesem Zusammenhang die Raffinerie in Lysytschansk. Die Raffinerie habe der britisch-russische Konzern TNK für 10 Mio. Dollar (7,72 Mio. Euro) erworben, so Soski, dessen Marktwert werde auf mehr als das 50-fache geschätzt.
Die Reprivatisierungskampagne birgt jedoch auch Risiken. Die derzeitigen Eigentümer von Kryworoschstal kündigten bereits an, die Entscheidung von Julia Tymoschenko gerichtlich anzufechten. Die Regierung muss also nachweisen, dass es sich bei dem Abschluss des Kaufvertrages tatsächlich um eine verbrecherische Privatisierung handelte, wie Tymoschenko es nannte. Denn zumindest formal verkaufte die Vorgängerregierung das Unternehmen in Übereinstimmung mit dem ukrainischen Gesetz. Julia Tymoschenko muss den Rechtsweg beschreiten, sagt etwa der ukrainische Politologe Hrygorij Nemyria. Andernfalls sende sie ein negatives Signal an die ukrainischen und internationalen Investoren, so Nemyria.
Experten sehen außerdem die Gefahr, dass viele in den vergangenen Jahren privatisierte Unternehmen vorerst ihre Investitionstätigkeit einstellen. Bereits im vierten Quartal 2004, als sich der Sieg von Viktor Juschtschenko bei den Präsidentenwahlen abzeichnete, registrierte die ukrainische Nationalbank einen Kapital-Abfluss von rund 250 Mio. Euro monatlich. Allein während der orangefarbenen Revolution in der Woche nach dem 22. November waren es 190 Mio. Euro. Dieser Trend könnte sich fortsetzen, falls die ukrainischen Unternehmer ihr Kapital im Land bedroht sehen. Politologen wie Wolodymyr Fesenko vom Forschungsinstitut Penta gehen deshalb davon aus, dass die neue Regierung bei ihren Kampf mit den Oligarchen auch Kompromisse schließen muss.