Hatte es noch im Sommer – zumindest von außen – den Anschein, als hätte die KP-Riege rund um Staats- und Parteichef Erich Honecker Politik, Staat und Gesellschaft fest im Griff, begann mit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November der Anfang vom Ende des Arbeiter – und Bauernstaats. Von diesem Datum handelt die Anthologie “Die Nacht, in der die Mauer fiel”, die zum Jahrestag als Suhrkamp-Taschenbuch erschienen ist.
Der Untertitel “Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989” deutet bereits an, dass hier ein breites Spektrum an Eindrücken von jenem Tag geboten wird, der neben Deutschland auch die Welt veränderte. Und weil die Literatur mehr Freiraum bietet als nüchterne, faktenbezogene Geschichtsbetrachtung, bleibt es auch der 1964 in Magdeburg geborenen Annett Gröschner vorbehalten, das Unerklärliche in durchaus menschlich verständlichen Dimensionen zu beschreiben: “Die Mauer zu öffnen, war die letzte Rache derer, deren Macht längst dahingeschwunden war. Und es war ihre wirksamste. Keine Diskussionen mehr. Sie ließen einfach los. Wie ein Schließmuskel, der nachgibt und alles rausläßt.” Anders ausgedrückt: Die DDR hatte endgültig ausgesch…
Trotz aller Vielfalt zeigen sich bei vielen Geschichten Parallelen, die schon beinahe ein Kontinuum darstellen. Im Alltag vieler Menschen passierte das epochale Ereignis eher beiläufig, selbst wenn die TV-Bilder von damals erregte Menschenmassen zeigen.
Ulrike Draesner (Jahrgang 1962) meint dazu lapidar in ihrem Beitrag “Frau Wiesel”: “Etwas passiert im Fernsehen, strahlt aus, ist wirklich und doch im eigenen Leben (noch) nicht da”. Als weiteres Beispiel sei der erste Satz der Geschichte “Gezeiten” von Antje Ravic Strubel herausgegriffen: “An die Nacht des 9. November habe ich keine Erinnerung mehr, (…) ich erinnere mich nicht. Mein Gedächtnis für diese Nacht ist leer. Und das kann nur heißen: ich habe tief geschlafen.”
An anderer Stelle hören sich die Erinnerungen der türkisch-stämmigen Emine Sevgi Özdamar ähnlich an: “Mensch, die Mauer ist gefallen. Habt ihr es gar nicht gemerkt?”, wird sie gefragt. “Nein”, lautet die Antwort, “wir waren im Berliner Ensemble und im Pergamon-Museum, und dann haben wir im Forum Hotel gegessen. Wir haben nichts gemerkt. Und die Kellner auch nicht.”
Wobei es nicht allein um das Anekdotenhafte daran geht, dass viele in der Erinnerung die historische Dimension des Moments irgendwie und irgendwo einfach verschliefen. Sinnbildlich oder tatsächlich. Es steckt auch etwas Wahrhaftiges darin, weil viele Menschen nicht nur momentan überrascht wurden, sondern auch lange brauchten, bis sie in der neuen Wirklichkeit angekommen waren.
Dabei schwappte diese Realität mit der anschließenden Wiedervereinigung ziemlich abrupt über die ehemalige DDR herein. Thomas Rosenlöcher formuliert es in dem Sammelband so: “…anstatt nach dem dritten Weg, suchten auch wir den Weg in den Westen. Wohl wissend, dass wir uns beeilen mussten, wenn wir noch drüben ankommen wollten, bevor hier der letzte das Licht ausmachte.”