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Die Conquista Europas

Spanien gewann das Finale der EURO 2008 im Wiener Ernst-Happel-Stadion gegen Deutschland und ist damit Europameister.

Es handelt sich erst um den zweiten Titel dieser Art in der fast 100-jährigen Geschichte des 1913 gegründeten spanischen Fußballverbandes. Da Spanien seit Jahrzehnten als Fußball-Weltmacht gilt, war er längst überfällig. Die Conquista Europas verdanken die Spanier einem alten Haudegen: Teamchef Luis Aragones.

Der im Juli 1938 geborene Aragones hatte das Traineramt nach der für Spanien enttäuschenden EURO 2004 in Portugal übernommen und lange deutete nichts daraufhin, dass ausgerechnet er die “seleccion” zu ihrem größten Triumph seit 44 Jahren führen sollte. Im Herbst 2006 stand sogar die Qualifikation für die EM-Endrunde in Österreich und der Schweiz auf der Kippe, in Nordirland (2:3) und Schweden (0:2) hatte Spanien bittere Niederlagen einstecken müssen.

Aragones bot damals seinen Rücktritt an und die meisten Fußball-Spezialisten zwischen Irun und Tarifa – und die gibt es millionenfach – schüttelten den Kopf, dass der Verband seinem Wunsch nicht nachkam. “Luis” war nicht nur wegen seines oft minder gesellschaftsfähigen Verhaltens – tatsächlich schreckt er vor keinem derben Fluch zurück – umstritten, auch seine Erfolgsbilanz war kein übermäßig bedrucktes Ruhmesblatt.

Zwar tingelt Aragones bereits seit 1974 trainermäßig durch die spanischen Lande, seit 1992 (Cup-Sieg mit Atletico Madrid) hatte er aber nichts mehr zu feiern gehabt. Und zu Meisterehren war er als Coach ohnehin nur einmal gekommen: Das war 1977 (ebenfalls mit “Atleti”), also auch schon eine Ewigkeit her. Gerüchteweise lag sein Verbleib auch daran, dass sonst niemand den Job übernehmen wollte.

In Spanien stehen traditionell die großen Vereine wie Real Madrid, FC Barcelona, Valencia CF oder jüngst auch der FC Sevilla im Mittelpunkt des Interesses. Zudem hat die spanische Nationalmannschaft in dem stark regionalistisch und bisweilen sogar von separatistischen Tendenzen (Basken, Katalanen) geprägten Land nicht immer einen starken Rückhalt. Vor allem wenn sie verliert.

Das hat sie aber nunmehr seit 19 Monaten nicht mehr getan und Aragones wird wieder ohne Ironie der “Weise von Hortaleza” genannt. Denn irgendwie hat der bald 70-jährige mit dem mürrischen Charme eines Turnlehrers, der wegen fehlender Versicherungsjahre noch im Pensionsalter Tag für Tag mit seinen Schützlingen auf dem Sportplatz stehen muss, das spanische Team revolutioniert. Wobei er nicht anderes getan hat, als die sattsam bekannten Tugenden seiner Spieler nicht als Erfolgshindernis zu betrachten, sondern sie zur Tugend zu erheben.

An sich galt der eher kleine, technisch beschlagene, aber verspielte Kickertyp, wie er in Spanien fast an jeder Straßenecke zu finden ist, im modernen, dynamischen Fußball als Auslaufmodell. Aragones aber baute sein ganzes Konzept darum auf. Über vier Jahre ließ er das mittlerweile sattsam zitierte “tiqui-taca” (“tiki-taka”), also das flinke Kurzpassspiel, fast bis zur Perfektion reifen.

Somit wurde seine geradezu unglaublich simple Fußball-Philosophie zum Erfolgsgarant: “Solange wir den Ball haben, kann der Gegner keinen Schaden anrichten.” Tatsächlich hatte Spanien in allen Spielen der EURO 2008 mehr Ballbesitz als der Gegner. Natürlich ging der “balon” mitunter auch verloren, doch dafür hatte Aragones die Defensive ein bisschen besser abgedichtet.

Freilich war ein langer Lernprozess vonnöten. Ein Schlüsselerlebnis war dabei das Achtelfinal-Aus bei der WM-Endrunde 2006 in Deutschland gegen Frankreich. “Luis”: “Damals haben wir zu fröhlich nach vorne gespielt.” Das hat sich geändert. Zudem ist Aragones in Sachen Taktik durchaus gefinkelter, als er es selbst nach außen hin darstellt. Spanien war gegen jeden Gegner optimal eingestellt.

Ein weiteres Erfolgsgeheimnis kramte er ebenfalls aus der Mottenkiste hervor. Der alte Mann im Trainingsanzug und der unvermeidlichen Trillerpfeife formte aus begabten und dadurch wohl auch egozentrischen Individualisten eine verschworene Gemeinschaft. Störende Elemente wie Reals Superstar Raul wurden dagegen entfernt. Wobei es Aragones weniger um Rauls Charakter ging, sondern um unerwünschte Nebenwirkungen wie etwa ständige Diskussionen über ihn in den Medien.

Der stets beschworene und öffentlich gepriesene Teamgeist nahm dann im dreiwöchigen Trainingsquartier in Neustift/Stubaital im Heiligen Land Tirol fast schon mönchische Dimensionen an. Selbst millionenschwere Stars wie Cesc Fabregas oder Xabi Alonso, die eigentlich karrierebewusste Egoisten sein sollten, nahmen in freudiger Demut auf der Ersatzbank Platz. Weil es der “Mister” so wollte. Fabregas: “Was der Mannschaft hilft, ist gut.”

All diese Ingredienzien konnten freilich nur deshalb zu einem spritzigen EURO-Cocktail werden, weil “Luis” das erste Mal seit Jahren auch das perfekte Spielermaterial für seine Ideen zur Verfügung hatte. Leute wie David Villa, Fernando Torres oder Xavi Hernandez sind nicht umsonst Lichtgestalten des europäischen Fußballs. Ihr Ausnahmekönnen in eine perfekte Harmonie verpackt, das musste einfach Erfolg bringen und die Durststrecke beenden.

Nur einmal, 1964, hatte Spanien bis Sonntag einen EM-Titel geholt. Durch ein 2:1 in Madrid gegen die UdSSR. Wie lange das her ist, lässt sich anhand des Wochenschauberichts von damals erkennen, der in Spaniens Internet-Medien zirkuliert. Zu Beginn wird die Begeisterung des 120.000-köpfigen Publikums über das Erscheinen von Diktator Francisco Franco und seiner Frau Carmen Polo in der Ehrenloge gezeigt. Der Sieg Spaniens über die UdSSR war auch ein Erfolg des Nationalkatholizismus gegen den Weltkommunismus. Die Zeitläufte haben viel verändert: Seit drei Jahren ist in Spanien die Homo-Ehe legal.

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