"Die bisherigen Amtszeiten würden nicht zählen" – Erdogans juristischer Trick für eine dritte Amtszeit

In mehreren Städten der Türkei gehen seit Tagen Menschen auf die Straße. Der Grund: die Inhaftierung von Ekrem Imamoglu, Bürgermeister von Istanbul und einer der prominentesten Oppositionspolitiker des Landes. Demonstrierende fordern nicht nur seine Freilassung, sondern auch den Rücktritt der Regierung. Beobachter werten die Festnahme Imamoglus als politisches Signal – sie könnte Erdogans Plan offenbaren, auch über 2028 hinaus im Amt zu bleiben.
Erdogans bisherige Amtszeiten und juristische Grauzonen
Recep Tayyip Erdogan ist seit 2014 Präsident der Türkei. Laut aktueller Verfassung darf ein Präsident maximal zwei Amtszeiten absolvieren. Nach der Einführung eines Präsidialsystems im Jahr 2018 argumentierte Erdogan jedoch, dies markiere den Beginn einer neuen Ära – die bisherigen Amtszeiten würden somit nicht zählen. 2023 gewann er eine Stichwahl und trat unter dieser Lesart seine „zweite“ Amtszeit an. Verfassungskonform wäre ein drittes Antreten 2028 nicht – es sei denn, bestimmte Bedingungen werden erfüllt.
Zwei Wege zu einer dritten Amtszeit
Verfassungsgemäß gäbe es für Erdogan zwei Möglichkeiten, um erneut zu kandidieren:
- Vorgezogene Neuwahlen: Laut Artikel 116 der türkischen Verfassung ist eine dritte Kandidatur zulässig, wenn das Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit (mind. 360 von 600 Stimmen) vorgezogene Neuwahlen beschließt.
- Verfassungsänderung: Eine dauerhafte Regeländerung, etwa zur Aufhebung der Amtszeitbegrenzung, erfordert eine Zweidrittelmehrheit (mind. 400 Stimmen) im Parlament.
Doch aktuell hat Erdogans Regierungsbündnis, bestehend aus der islamisch-konservativen AKP (272 Sitze) und der rechtsextremen MHP (47 Sitze), nur 319 Stimmen – zu wenig für beide Szenarien.
Verhandlungen mit Kurden als möglicher Schachzug
Laut Informationen der Agence France-Presse könnten derzeit geheime Gespräche mit der pro-kurdischen Partei DEM laufen. Bereits im Herbst sei die Regierung auf die DEM zugegangen, um einen neuen Friedensprozess mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu starten. Die DEM hält 57 Sitze – entscheidend, um eine Dreifünftelmehrheit für Neuwahlen zu erreichen. Doch selbst dann wäre ein Wahlsieg für Erdogan keineswegs sicher. Die oppositionelle CHP könnte beispielsweise Mansur Yavas, den beliebten Bürgermeister von Ankara, ins Rennen schicken.
Präsidentschaft auf Lebenszeit? Theorie versus Realität
Rein theoretisch wäre sogar eine Amtszeit auf Lebenszeit möglich – nämlich durch eine Verfassungsänderung. Doch die notwendige Zweidrittelmehrheit (400 Stimmen) gilt als politisch kaum erreichbar. „Selbst mit Unterstützung der DEM und kleinerer Parteien würde die Mehrheit nicht ausreichen“, sagte Bekir Karaahmetoglu, Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, gegenüber AFP.
Ein Referendum über eine Verfassungsänderung könnte mit einer Dreifünftelmehrheit eingeleitet werden – wie bereits bei der Änderung 2017. Doch derzeit erscheint auch ein erfolgreiches Referendum unwahrscheinlich: Erdogans Rückhalt in der Bevölkerung ist nicht mehr so stark wie früher.
(VOL.AT)