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Deutschland: Parteien auf dem Prüfstand

Der andauernde Umbau von Sozialstaat und Arbeitsmarkt droht die Vertrauenskrise der deutschen Parteien nach Ansicht von Wahlforschern weiter zu verschärfen.

Dass sich die Volksparteien SPD und CDU/CSU bei den kommenden Bundestagswahlen 2006 in ihrer Rolle als Stabilitätsanker des politischen Gefüges behaupten können, erscheint zur Halbzeit der zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün unsicherer denn je.

Seit mehr als eineinhalb Jahren befindet sich die SPD mit Werten deutlich unter 35 Prozent im Umfrage-Dauertief. Gleichzeitig glauben nach einer Erhebung der Mannheimer „Forschungsgruppe Wahlen“ rund 59 Prozent, es würde keinen Unterschied machen, wenn CDU/CSU an der Regierung wären. „Die eigentliche Bewährungsprobe für das politische System steht noch bevor“, prognostiziert Matthias Jung, Geschäftsführer der Forschungsgruppe.

Zwar liegt die Union in der aktuellen Sonntagsfrage von Infratest-dimap mit 44 Prozent immer noch weit vorn. Doch dies sei „kein Eheversprechen“, betont der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts, Richard Hilmer, in Berlin. Wenn sich die Wirtschaft und damit womöglich auch die SPD erholt, sei das Rennen für die Wahl in zwei Jahren „völlig offen“.

„Den Menschen erscheint es nicht mehr so bedeutend, welche Partei an der Macht ist“, sagt Jung. Einst feste Parteibindungen aus Ideologie oder familiärer und sozialer Herkunft seien lose oder schon gelöst. „Der politische GAU entsteht dann, wenn die jetzige Opposition 2006 gewählt würde und dann als Regierung die gleichen Probleme bekäme wie die heutige Regierung.“ Auch nach Hartz-IV und anderen aktuellen Reformen drohten gravierende Verteilungsengpässe und Haushaltslöcher. Auch wenn viele Deutsche nach mehreren Umfragen Reformen durchaus mittragen möchten, scheinen die großen Parteien diese Haltungen kaum noch in breit akzeptierte Politik umsetzen zu können.

Bei zunehmender Verwechselbarkeit von SPD und Union werden Grüne, FDP und PDS für viele nach Auffassung Hilmers zunehmend zum „Auffangbecken“. „Wenn das auch nicht mehr reicht, ist man offen für alle möglichen Alternativen.“ Für Jung ist bereits absehbar, dass mittelfristig „die Stunde der Extreme“ schlagen könnte. Derzeit räumen Umfragen auch einer neuen Linkspartei echte Chancen ein.

Politologen in Stuttgart, Mainz und Bamberg haben die politische Teilhabe in Deutschland über Jahre untersucht. Nur noch jeder zehnte Deutsche vertraut demnach Politikern und Parteien. „Das ist alarmierend“, sagt einer der Forscher, der Stuttgarter Politikprofessor Oscar W. Gabriel. Politik ist den Bürgern nach Überzeugung Gabriels damit aber noch lange nicht gleichgültig – die immer wieder beklagte „Politikverdrossenheit“ hält der Professor für eine Fiktion. „Während die Partei-Identifikation in Deutschland zurückgegangen ist, ist die politische Urteilsfähigkeit gestiegen“, betont Gabriel. Wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung in diesem Jahr ergab, zeigen gut die Hälfte der Deutschen sogar ein starkes Interesse an Politik. Alternativen liegen für diese Mehrheit der Menschen nicht nur innerhalb des Parteiensystems. Viele Gruppen und Verbände – von Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen bis zu ATTAC oder Umweltorganisationen – verzeichnen regen Zulauf, während der SPD, weniger stark auch der CDU, viele Mitglieder davongelaufen sind.

Die Wahlbeteiligung ist in diesem Jahr auf Tiefstände gefallen:
43,0 Prozent bei der Europawahl, 53,8 bei der Thüringer Landtagswahl und 52,8 Prozent bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg. Hinter niedriger Wahlbeteiligung steckt nach Ansicht von Experten allerdings keine Abwendung vieler Menschen von der Demokratie. „Dass Nichtwähler aus Politikverdrossenheit nicht wählen, ist seit Jahren eine unausrottbare These“, sagt Gabriel. Doch vielmehr würde die betreffende Wahl von vielen einfach als nicht so bedeutsam eingeschätzt.

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