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Der Dorn im Auge der Gesellschaft

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Drogenszene Karlsplatz: Rund 200.000 Menschen benützen jeden Tag die Passagen beim Bahnhof. Heftig diskutiert wird bis heute aber nur die Anwesenheit von etwas mehr als 100 Personen. Der Grund: Sie sind suchtkrank, konsumieren Alkohol oder Drogen oder beides.
Die Szene, die immer zurückkommt
Drogenszene: Zankapfel der Parteien

Und sie sind vielen nach wie vor ein Dorn im Auge. Dabei bemühen sich der Verein Wiener Sozialprojekte und die Wiener Linien bereits seit vielen Jahren um Deeskalation. Am Karlsplatz kommen derzeit nach regelmäßigen Zählungen der Streetworker 86 Drogen-Suchtkranke immer wieder zusammen. In der oben genannten Zahl von mehr als 100 sind auch jene enthalten, die zum Beispiel ausschließlich alkoholabhängig sind, so Roland Reithofer, Geschäftsführer des Vereins.

Doch auch die im Kontext eher gering anmutende Zahl besänftigt nicht jeden. Ein Geschäftsmann in der Kärntnertorpassage zur APA: “Die gehören da nicht her, sind wir uns ehrlich. Die ganzen Touristen gehen hier durch auf dem Weg zum Naschmarkt”, sagte er zur APA. Ringhotels hätten ihren Gästen eine Zeit lang sogar empfohlen, den Karlsplatz zu meiden. “Ich weiß ja nicht, wie das jetzt ist.”

Doch solche Misstöne sind zurückgegangen, seitdem der Verein “Help U”, bei dem die Wiener Sozialprojekte und die Wiener Linien zusammenarbeiten, vor rund fünf Jahren seine Arbeit aufgenommen hat, wie Hannes Schindler, Einrichtungsleiter bei Help U, berichtete. Neun Mitarbeiter beider Institutionen versuchen Probleme in dem Bereich zu entschärfen oder im Idealfall zu lösen. “Help U ist für alle da”, so Schindler. Mittlerweile haben die Mitarbeiter, ursprünglich als “Hilfssheriffs” der Polizei eher skeptisch betrachtet, auch zu den Suchtkranken einen guten Draht. “Wir arbeiten mit der Polizei zusammen, aber es gibt keinen Informationsaustausch”, sagte der “Help U”-Vertreter.

160 Konflikte haben die “Help U”-Mitarbeiter im Jahr zu bewältigen. “Das hat sich gegenüber dem Beginn unserer Arbeit aber um zwei Drittel vermindert”, erzählte Schindler. Die Aufgabe des Teams beschrieb er so: “Weltbilder erklären: Was passiert hier, wenn die Menschen überhaupt zugänglich sind.” Man versuche immer, Lösungen für alle zu finden. Typische Fälle seien nicht nur Hochdosierungen bei Suchtkranken. Auch Unterstützung für betagtere Leute, die auf der Rolltreppe gestürzt sind, zählt zu den Aufgaben.

4.500 Spritzen pro Tag getauscht

Ein Stück vom “Help U”-Stützpunkt ums Eck – in der Secessionspassage – befindet sich die Beratungsstelle der Streetworker. Wenn sich kurz vor 10.00 Uhr die Tür der Anlaufstelle öffnet, steht meist eine ganze Gruppe Suchtkranker hier. Sie wollen sich neue Spritzen holen, um sich die Drogen zu initiieren. Etwa 4.500 Spritzen werden hier pro Tag getauscht. Nicht nur die auf maximal 300 Personen geschätzte offene Szene macht von diesem Angebot Gebrauch, wie Reithofer erläuterte. Insgesamt dürften sich 7.000 Einwohner in der Bundeshauptstadt Drogen intravenös verabreichen. Die meisten von ihnen sind voll integriert und gehen einer geregelten Beschäftigung nach. Nur frische Spritzen besorgen sie sich am Karlsplatz.

Der Tausch ist für die Konsumenten gratis. Nur die Erstbeschaffung kostet – ein wenig – Geld. Reithofer: “Die Spritzen werden nach einmaligem Gebrauch zurückgegeben.” 98 Prozent aller ausgegebenen Injektionsbestecke würden retour kommen. Man versuche beim Tausch auch, Bewusstsein zu schaffen. Mit Erfolg, wie Reithofer betonte: “Wir haben eine der niedrigsten HIV-Prävalenzen unter Suchtkranken in Europa.” Bei Hepatitis sei es ähnlich.

Seit 20 Jahren bieten die Sozialarbeiter von Streetwork ihre Dienste auf niederschwelliger Ebene an. Die Beratungsstelle ist auch Zufluchtsort. In einem kleinen Cafe können sich die Betreuten vorübergehend zurückziehen. “Obdachlos oder suchtkrank zu sein, ist massiver Stress”, sagte Reithofer. Die Betreuten seien oft polytoxikoman – sie nehmen verschiedene Substanzen gleichzeitig ein -, polytraumatisiert und hätten häufig Missbrauch oder Misshandlungen erlitten. Die Ziele der Streetworker sind von Fall zu Fall verschieden: “Nicht alle kann man therapieren. Oft ist auch nur eine Stabilisierung das Ziel: das Überleben zu sichern”, erklärte Reithofer.

Endstation muss der Karlsplatz nicht sein: Als “Balsam auf die Sozialarbeiterseele” bezeichnete der Experte zum Beispiel eine Betreute, die schwer missbraucht sehr jung auf den Karlsplatz kam und ebenfalls polytoxikoman war. Einmal im Jahr besucht sie heute noch die Streetworker in der Beratungsstelle. Sie ist aber seit vielen Jahren clean und völlig im Berufsleben integriert.

Doch “Help U” und “Streetwork” stehen durch den Umbau des Karlsplatzes große Veränderungen bevor. Wie sich das auf die Szene auswirkt, wussten die Experten nicht. “Die Baustelle wird ein Stück weit ein Überraschungsei”, meinte der “Help U”-Vertreter. Als sicher gilt nur, dass die Szene wohl um einiges mobiler sein wird.

Gunther Lichtenhofer/APA

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