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Das Stockholm-Syndrom

Im Fall der vor mehr als acht Jahren entführten und am gestrigen Mittwoch wieder aufgetauchten Natascha Kampusch geht Erich Zwettler vom Bundeskriminalamt davon aus, dass das Geiselopfer "an einem schweren Stockholm-Syndrom" leidet.

Dies ist bei Entführungen nicht selten. In Extremfällen kann es sogar zu massiver Solidarisierung, Freundschaft oder sogar Liebe zum Täter führen. Die Entführung von Patricia Hearst, der Enkeltochter des legendären US-Verlegers William Randolph Hearst, in den siebziger Jahren ist wohl das extremste Beispiel für das Stockholm-Syndroms: Die Geisel wurde selbst zur Rebellin bzw. Terroristin.

Die linksradikale Symbionese Liberation Army (SLA), die sich selbst als „urbane Guerilla-Bewegung“ verstand, entführte die damals 19-jährige Millionenerbin am 4. Februar 1974 aus ihrer Wohnung in Berkeley, Kalifornien. Ursprünglich wollte die SLA einen Gefangenenaustausch mit einem inhaftierten SLA-Mitglied erzwingen, doch die Verhandlungen scheiterten. Daraufhin erpresste die Gruppe von der Hearst-Familie ein Lösegeld von sechs Millionen Dollar, von der die SLA Lebensmittel kaufte, die in den Armenvierteln von San Francisco, Oakland und Berkeley verteilt wurden. Patty wurde allerdings nicht freigelassen.

Zwei Monate nach der Entführung schloss sich die Geisel schließlich der SLA an, was zum Teil auf das Stockholm-Syndrom zurückgeführt werden kann. Bei der SLA nahm sie den Namen Tania an, in Würdigung einer der Freundinnen des südamerikanischen Freiheitskämpfers Ernesto Che Guevara. Unter ihrer neuen Identität beteiligte sie sich an mehreren politisch motivierten Überfällen.

Ihre kriminell-terroristische Karriere war allerdings nur von kurzer Dauer: Nach einem Banküberfall in San Francisco 1974 wurde sie zur meistgesuchten Frau der USA, weil sie bei einem Schusswechsel zwei Beteiligte verletzt hatte. Im September 1975 wurde sie verhaftet und 1976 von einem Gericht in San Francisco zu 35 Jahren Haft verurteilt. In einem Berufungsprozess wurde die Strafe auf sieben Jahre herabgesetzt, weil klar wurde, dass Hearst am Stockholm-Syndrom litt. Einige US-Justizexperten hegten aber dennoch den Verdacht, dass die ganze Entführung mit Zustimmung von Patty Hearst inszeniert worden sei. 1979 sorgte der damalige US-Präsidenten Jimmy Carter für eine Teilbegnadigung und eine vorzeitige Haftentlassung. Im Jänner 2001 begnadigte der scheidende US-Präsident Bill Clinton die mittlerweile ins bürgerliche Leben zurückgekehrte und als Schauspielerin tätige Frau zur Gänze.

Über ihre Geiselhaft erzählte Hearst in späteren Jahren, dass man sie zwei Monate lang mit verbundenen Augen in einem kleinen Raum festgehalten und sexuell missbraucht habe. Nach dieser Zeit habe sie die Wahl gehabt, sich der Gruppe anzuschließen oder exekutiert zu werden.

Nach dem missglückten Überfall tauchte sie mit ihren Mitkämpfern unter, doch schon wenige Wochen danach glaubte die kalifornische Polizei, das Hauptversteck der SLA-Guerillas gefunden zu haben. Etwa 500 Polizisten umzingelten ein Haus in Watts bei Los Angeles, warfen mit Tränengas gefüllte Behälter durch die Fenster und setzten es in Brand. Alle Terroristen wurden getötet, doch Patty Hearst war jedoch nicht wie vermutet unter ihnen. Sie befand sich zu dieser Zeit mit zwei anderen SLA-Rebellen in einem Motel in der Nähe und konnte fliehen. Erst im September 1975 wurde das Trio vom FBI in San Francisco festgenommen.

Kurz nach ihrer Freilassung schrieb Patty Hearst ein Buch über diese Vorfälle, die in vielen Bereichen aber nur vage und lückenhaft dargestellt sind.

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